Die Palette in meiner Hand

Wer bin ich und wenn ja, wie viele?[1] Es gibt tausend Dinge, die uns ausmachen. Ich spreche nicht von unserem äußeren Besitz. Wir nehmen Informationen auf, gewichten sie, geben ihnen eine positive oder negative Färbung und verarbeiten sie dann zu einem Ergebnis. Das geschieht täglich, stündlich, ja sogar mit dem Verstreichen jeder Sekunde. Wir sind pulsierend: Ein Herz in Großform. Dieses sinnbildliche Herz kommt mir manchmal vor wie eine riesige Waschtrommel, die ihre Zutaten vermengt und durcheinanderwirbelt. Nach dem Waschgang haben wir nichts mehr mit der Person gemeinsam, die es noch vor wenigen Momenten gab. Die Zeit mit ihren Informationen und Ereignissen verändert uns ständig. So lässt sich eine horizontale Linie in die Vergangenheit ziehen, die auf jedem Abschnitt eine unterschiedliche Version von uns selbst präsentiert.

Betrachte ich mich in diesem Moment, so könnte der Gedanke kommen, die Welt hätte es mit einem Individuum zu tun, das wenigstens zu einem bestimmten Zeitpunkt auf eine ganz bestimmte Art und Weise gestrickt ist und sich auch so verhält. Ist es so?

An einem ganz normalen Nachmittag stehe ich im Supermarkt an der Kasse. Obwohl ziemlich viele Kunden das Geschäft füllen, ist leider nur eine Kasse offen und ich stelle mich ganz genau genommen wartend an die siebte Stelle in der Reihe. Mir ist langweilig und viel zu warm. Seufzend lehne ich mich auf meinen Einkaufswagen, betrachte noch ein wenig die Auslagen um mich herum, schließlich wurden sie ja für solche Fälle liebevoll in der Kassennähe drapiert und höre schließlich den unterschiedlichen Gesprächen ohne schlechtes Gewissen zu. Ziemlich schnell drängte sich die Stimme der Kassiererin in den Vordergrund:

„Können Sie nicht aufpassen! Die ganze Erde ist nun auf meinem Laufband!“ Eine junge Frau hatte ihr Kartoffelnetz unbedarft zum Scannen hingelegt. Eine leise Entschuldigung der Kundin folgte. Anscheinend mochte sie überhaupt nichts mehr sagen, denn die Zornesfalte der Kassiererin war deutlich zu sehen. Bezahlung, nächster Kunde.

Wie durch ein Wunder veränderte sich die unheilschwangere Situation. Die zusammengezogenen Augenbrauen der kassierenden Frau entspannten sich und sie blickte fast liebevoll auf die Lebensmittel des nächsten Kunden, der anscheinend Größeres vorbereitete: ziemlich viel Fleisch, ziemlich viele Kohlenhydrate in Form von Chips, Nüssen und Salzstangen und eine ganze Batterie an verschiedenen Bieren.

„Na, da scheint es ja bald eine Party zu geben, oder?“

Ich traute meinen Ohren kaum. Naja, vielleicht war es bei der jungen Frau auch nur ein Ausrutscher. So etwas kann passieren. Bezahlung, nächster Kunde.

Ein Tischler auf der Walz kaufte sich ein paar Kleinigkeiten.

„Sie sehen ja richtig gut aus. Die Tracht steht Ihnen!“

Alles war gut. Ich hatte eine freundliche Kassiererin mit Gefühl für ihre Kunden und deren Belange. Bezahlung, nächster Kunde.

Eine ersichtlich gestresste Jungmutter legte noch Lebensmittel auf das Band und beruhigte währenddessen ihr Kleinkind, das im Einkaufswagen saß und nicht sitzen bleiben wollte. Kurzerhand nahm die junge Frau ein Brötchen aus der Tüte und gab es dem Kind.

„Sie können doch nicht einfach Ware verzehren lassen, die noch nicht bezahlt worden ist!“

Überrascht blickte die Jungmutter auf die Kassiererin. Ich auch. Die Zornesfalte hatte sich zurück gemeldet. Der folgende Wortwechsel war nicht besonders nett und die Reihe rückte auf.

Wenn meine Theorie stimmte, dann müssten die folgenden beiden männlichen Kunden nett behandelt werden. Das wurden sie. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass ich gleich Opfer der Zornesfalte werden würde. Diese Frau machte Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Kunden. Wie unfair!

Innerlich wappnend schaue ich die Kassiererin an. Sie sah mich an, wünscht mir einen „Guten Tag“ und blickte dann aufs Band.

„Sie haben ihre Champignons nicht ausgewogen!“

Prüfend blicke ich auf die durchsichtige Tüte. Stimmt! Genau in dem Moment als ich die Pilze aus dem Regal nahm, entdeckte ich meine nette Nachbarin und wir klönten was das Zeug hielt. Da kann frau schon mal das Abwiegen vergessen.

„Oh, das habe ich tatsächlich nicht getan. Können Sie es hier an der Kasse auswiegen?“

„Wo denken Sie hin? Wir haben extra Waagen dafür, sonst dauert es hier an der Kasse so lange. Sie müssen schon selbst abwiegen.“

Ich hatte jetzt wirklich nicht die Geduld meine Sachen zusammenzupacken, abzuwiegen und dann mich wieder in die Schlange zu stellen. „Dann nehme ich die Pilze nicht, das ist ok.“

Vor sich her murmelnd nahm die Kassiererin die Plastiktüte und warf sie auf die Seite. Ich wollte gerade Luft holen, um etwas zu sagen, als sich der ältere Herr hinter mir einmischte.

„Es ist schon in Ordnung, wenn Sie die Champignons noch kurz auswiegen. Auf die paar Sekunden kommt es doch nicht an, oder?“ Mit einem gewinnenden Lächeln löste dieser Mann die Zornesfalte wieder auf und griff mit der einen Hand zu der Tüte, um sie dann wie einen Preis vor dem Gesicht der Kassiererin hin und her zu wedeln. Ich hätte schwören können, dass er ganz unbeabsichtigt/beabsichtigt noch als i-Tüpfelchen die Hand der Frau berührte. Ich schaute ihn bewundernd an. Diesem Mann war sehr wohl klar, dass die Kassiererin unterschiedlich auf Männer und Frauen reagierte. Er nutzte es, um den Frieden wieder herzustellen.

Der Mensch ist also nicht nur auf der horizontalen Zeitschiene unterschiedlich in seiner Erscheinung und seinem Charakter, sondern sehr wohl auch in einer vertikalen Linie, die die Facetten unseres Ichs mit sich trägt. In einem Moment sind wir eine ganz bestimmte Person, doch diese Person wird je nach äußerem Einfluss verschiedene Seiten offenbaren. Manchmal sind es diese, manchmal jene. Im Grunde können wir uns mit den unzähligen möglichen Punkten in einem Koordinatensystem, das aus einer X- und einer Y-Achse besteht, vergleichen; der Schnittpunkt ist der Ausgangspunkt für einen bestimmten Moment. Vielleicht geraten wir deshalb immer wieder mit anderen Menschen aneinander, da wir eigentlich solch ein ungeschmeidiges Konstrukt sind, das ständig irgendwo hängen bleibt.

Mit so vielen Möglichkeiten wir selbst zu sein, da gibt es das Mittagessen mit oder ohne Pilze.

Mit so vielen Möglichkeiten wir selbst zu sein, können wir unseren fassungslosen Unmut über eine dumme Bemerkung deutlich in die Welt rufen oder ziehen es vor, nicht einmal mit der Wimper zu zucken, da nicht alles es wert ist, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Mit so vielen Möglichkeiten haben wir die Wahl, ob wir anderen die Hölle auf Erden bereiten oder ihnen ein Lächeln auf das Gesicht zaubern.

Wie wollen wir sein?

 

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[1] Titel eines Buches von Richard David Precht (Philosoph), 2009.
Anm. zum Titelbild: Ausschnitt aus einem Bild http://www.angelika-poeter.de/