Das Tal der weißen Drachen

Es war meine weiteste Reise und ich werde sie nie vergessen. In meinen Träumen lebte ich dort und mochte nie wieder gehen. Vielleicht wage ich es irgendwann, das Land als mein Zuhause zu wählen. Irgendwann… Meine Erinnerungen bringen mir die Bilder, als wäre es gestern gewesen:

Der grün-leuchtende Riesenfarn hing fast drei Meter über meinem Kopf und kennzeichnete den Eingang des Manu National Parks in Peru. Meine ganzen Ersparnisse der letzten zwei Jahre finanzierten diesen vierwöchigen Trip, dessen Vorbereitung ebenso lange benötigte, mental wie körperlich. Tausend Mal sprach ich mit meinen Freunden, die mich davon abbringen wollten, hundert Mal versprach ich auf mich aufzupassen und zehn Mal kamen die Zweifel bei mir selbst. Alles ganz normal und gleichzeitig wahnsinnig aufregend. Bisher kannte ich nur den Farn aus meinem Garten, der gerade mal bis zu meinen Knien wuchs. Unzählige Flugstunden entfernt wirkte diese Pflanze, als wäre sie mit ihren überdimensionalen Blättern der Dinosaurierzeit entnommen.

Ich stand davor, berührte dieses Wunder und freute mich über die vielen schmalen geordneten länglichen Finger, die in dieser symmetrischen Form den Betrachter beeindruckten; hier war ein Meister am Werk. Mein erster Tag, mein erstes Blatt, mein erstes Wohlgefühl mit diesem eigenartigen Empfinden des Ganz-Seins, das ich meiner Vorfreude zuschrieb und mich in den folgenden Wochen begleiten sollte.

Alles schien ungewöhnlich: Die Bäume, die Blätter und die Stimmen der Tiere. Lediglich mein etwas zu schwerer Rucksack holte mich immer wieder in die Gegenwart zurück. Ich wanderte mit einem einheimischen Führer und fünf anderen Mitreisenden durch das riesige Gebiet. Wir wollten die Natur erkunden, die vielfältige Tierwelt mit viel Glück bestaunen und ein Gefühl dafür bekommen, ob es auch ohne Kühlschrank und Dach ginge. Meine Aufregung sprach Bände.

Der hier aufgewachsene Peruaner, der uns in den Wochen durch alle Wirrnisse begleiten sollte, war ein kleiner schmaler Mann mit strengen Augen und hieß Yurak.  Er erinnerte mich an meinen Kunstlehrer in der vierten Klasse, der mich damals mit seinem Blick so fixieren wollte, dass ich endlich einmal auf meinem Platz sitzen bliebe. Er schaffte es nicht. Yurak schon: Seine dunklen Augen blickten ohne Lidschlag als wollten sie mein Innerstes prüfen. Er sah sich seine Mitreisenden ganz genau an; er sprach mit jedem. Als ich an der Reihe war, bemerkte ich eine leichte Aufregung, als stünde ich vor einer Prüfung, die auch nicht vorteilhaft für mich ausfallen könnte. Er begrüßte mich und fragte mich nach meinen Wünschen. Nein, er formulierte es anders: Er fragte nach meiner Erkenntnis, die ich nach dieser Reise gewonnen haben wollte. Ich schaute ihn mit großen Augen an. Solch eine Frage gehörte nicht zur üblichen Konversation oder Vorbereitung. Normalerweise ließ sich so etwas nicht so einfach beantworten. Ich fühlte mich gescannt, als läge ich auf dem Band im Supermarkt und der Käufer möchte meinen Preis ermitteln und damit meinen Wert. Einen kleinen Moment schimpfte ich mit mir über das Durcheinander in meinem Kopf. Yurak nickte. Na klar, er weiß, was ich denke. Ich brauche mir überhaupt nichts ausdenken, er wüsste so oder so, ob es der Wahrheit entspräche! Yurak schaute mir immer noch in die Augen und begann leicht zu grinsen. Ich seufzte und beschloss, ab diesem Punkt meine übliche Fassade der Unnahbarkeit für die nächsten vier Wochen aufzugeben. Mich kannte hier niemand und nach der Reise gingen wir alle unsere Wege. Ich wollte gerade antworten, als Yurak seinen Arm hob und seinen Zeigefinger auf meine Lippen legte. Als Europäerin überraschte mich diese vertraute Geste von einem Fremden, doch es war mir nicht unangenehm und ich ließ es einfach geschehen. Niemand beobachtete uns. Die anderen standen vor dem Farn und diskutierten über diese kraftvolle Pflanze.

Heute übernachteten wir noch in einem Reisecenter, das als Startpunkt für die Rucksacktouristen diente und noch alle möglichen Annehmlichkeiten des Lebens bot. Ich genoss das Essen, ein unglaublich bequemes Bett und erholte mich von den bisherigen Reiseanstrengungen.

Eine Woche später träumte ich oft gerade von dieser ersten Nacht im Park. Mein Körper sehnte sich förmlich nach etwas mehr Komfort, doch das würde hoffentlich vergehen. Unzählige Bilder schienen meinen Kopf mit aller Buntheit zu belagern. Immer wenn ich dachte, mich würde nichts mehr überraschen, dann wurde ich eines Besseren belehrt. „Bunt“ schien das Motto des Landes zu sein, sei es bei den Menschen, den Tieren oder Pflanzen. Ich liebte es.

Yurak führte ein sehr strenges Regime, da er seine Verantwortung sehr ernst nahm. Manchmal entfernte ich mich ein wenig, doch er schien einen inneren Alarm zu besitzen, wenn irgendein Gruppenmitglied sich seiner Obhut entziehen wollte. Ich besaß ganz bestimmt nicht den Ehrgeiz, seine Grenzen austesten zu wollen. Ohne mein Zutun schien aber genau dies zu geschehen, ich kam mir vor wie die kleine Schwester auf die der Rest der Familie ständig ein Auge hatte. Zugegeben, Pflanzen und Tiere nahmen mich viel zu oft in ihren Bann. Vielleicht verlor ich mich öfter in der Betrachtung oder träumte mich in die Augen kleiner Äffchen, die manchmal ganz neugierig die merkwürdigen Geschöpfe in ihrer Nähe betrachteten. Doch wer tat das nicht?

Ganz unbewusst versuchte ich immer das Schlusslicht der Wandergruppe zu sein; so konnte mich keiner scheuchen und ich bekam etwas mehr Zeit für meine eigenen Forschungen. Vielleicht lag es an meiner Müdigkeit, denn in der letzten Nacht schien sich der Boden durch meine kleine Isomatte hindurchgebohrt zu haben; ich spürte immer noch die Druckstellen. Vielleicht lag es auch an den wunderschönen großen bunten Aras, die nicht weit entfernt am Hang hingen. Ich kannte diese besonderen Tiere nur aus dem Zooladen. Ganz bestimmt lag es aber auch an den kleinen Äffchen, die unsere Gruppe inklusive Führer völlig beschäftigte. In einem unbedachten Moment trat ich auf einen etwas größeren Stein, verlor dadurch mein Gleichgewicht und im Zuge dessen, die völlige Orientierung, denn mein Körper rutschte seitlich den Hang hinunter. Zwei, drei Meter hätten bestimmt für eine gelungene Anekdote gereicht. Doch hier mussten alles übertrieben werden: Ich rutschte bestimmt gute zwanzig Meter auf dem lehmigen Boden herab, scheuchte damit die Aras auf und kam schließlich an einen umgestürzten Baum wieder zum Stillstand. Ich hielt einen Moment inne, um meinen Körper zu spüren. Alles an Ort und Stelle? Meine Beine waren aufgeschürft, der Rucksack schützte zum Glück meinen Rücken, aber diese hellere Lehmschicht schien sich mit einer gewissen Ordentlichkeit über mein gesamtes Äußeres gelegt zu haben. Ich schaute nach oben und rief nach meiner Gruppe. Nichts. Niemand schien mein Abrutschen bemerkt zu haben! Wahrscheinlich hatte ich es diesmal mit meiner Distanz zur Gruppe übertrieben. Die Pflanzen und meine Entfernung verschluckten meine Stimme. Jetzt hörte ich nur noch mein Herz, das anscheinend direkt zum Hals gewandert war.

Zehn Minuten lang gab ich mir richtig Mühe, meine Stimme in jeglichen Tonarten in Richtung meiner Gruppe zu transportieren. Nichts. Panik kroch nun sehr erfolgreich über meinen Körper. Als ich feststellte, dass ich niemals den gleichen Weg wieder zurücknehmen könnte, vermochte ich kaum richtig zu atmen. Ich schaffte keinen Meter nach oben, ohne gleich wieder herabzugleiten. Selbstverständlich gab es für solche Notfälle eine Unterweisung vor der Reise, doch ehrlich gesagt, hatte ich für diesen winzigen wichtigen Moment wohl nicht richtig aufgepasst. Das war es nun wohl. Verloren in einem riesigen Gebiet würde ich vermutlich in einem der schönsten Landstriche der Erde entweder verdursten, von irgendetwas angefallen werden oder sonst wie mein Schicksal finden.

Es wäre immerhin ein kreatives Ende für eine Schleswig-Holsteinerin. Heute weiß ich, dass ich einfach hätte warten müssen. Doch damals kam es mir nicht in den Sinn. Ich machte mich auf den Weg, der meines Erachtens der Richtung zu meiner Gruppe entsprach. Ich versuchte mich nicht nur an der Sonne zu orientieren, sondern betrachtete auch ganz genau meine Umgebung. Vielleicht gab es irgendwo irgendwelche Hinweise für einen offiziellen Weg oder oft benutzte Trampelpfade, vielleicht hatte ich ein wenig Glück.

Ich ließ unzählige interessante Dinge am Boden liegen, erschrak über die Tier-Geräusche und fasste ausnahmsweise nicht alles an; ich hätte niemanden, der mir helfen könnte, falls es sich als Fehler erwies. Immer wieder rief ich einfach um Hilfe, manchmal hörte ich mein eigenes Echo. Also befand ich mich wohl in einem Talkessel. Der Lehm auf meiner Haut trocknete langsam, so dass immer wieder Krümel von mir herabfielen. Ich bemerkte es mit Galgenhumor. Ich kam mir vor wie im Märchen. Hänsel half es aber auch nicht wirklich. Dafür hörte ich erfreut im nächsten Moment das leise Gluckern einer Quelle. Das war doch mal was! Gierig stürzte ich mich nach vorn, um zu trinken. Fast im Wasser kniend, stützte ich mich mit einer Hand auf dem Boden ab und wollte mit der anderen das kostbare Nass schöpfen. Ein stechender Schmerz schoss durch meinen linken Arm. Ich hatte mich auf etwas Spitzes abgestützt. Ich hob erschrocken meine Hand und sah gleich Blut aus meiner Handinnenfläche fließen. Das war jetzt nicht mehr witzig! Ich säuberte hastig meine Hand im Wasser und versuchte durch das Bewegen der Muskeln, die Blutung zu stoppen, doch es wurde dadurch nur mehr. Etwas panisch suchte ich mein Halstuch aus dem Rucksack zum Verbinden. Für einen Moment ging es. Neugierig betrachtete ich den spitzen Gegenstand. Es war ein glatter, halbrunder, weißer handtellergroßer dünner Stein. Es sah so aus, als wäre er abgebrochen worden. Dieses Beweisstück wollte ich nicht zurücklassen und steckte es in meine seitliche Hosentasche. Ich beschloss hier heute zu campieren. Hier gab es wenigstens Wasser.

Die Nacht war grausam. Die Geräusche traten unglaublich nah in den Vordergrund und es schien überhaupt keine Lichtquelle zu geben. Ich nahm den Stein aus meiner Hose in die Hand und hielt ihn gegen das leichte Mondlicht. Er schien aufgrund seiner Struktur den fahlen Schein zurückzusenden. Es sah aus wie ein Ballspiel mit Energie. Schön. Das Wetter musste auch umgeschlagen sein, mir wurde immer wärmer, obwohl eigentlich nachts die Temperatur in den letzten Tagen immer drastisch sank. Heute schien sie eher zuzunehmen. Ich begann zu schwitzen und hielt meine Füße ein wenig ins Wasser. Es half im ersten Moment, aber nicht wirklich. Mit dem Fortschreiten der Zeit fühlte ich mich immer mehr so, als wäre ich wirklich im Backofen der Hexe gelandet. Kein schönes Gefühl.

Vielleicht sollte ich einfach versuchen zu schlafen. Riesige Farnblätter schienen auch hier zu wachsen, sie waren mir bei Licht überhaupt nicht aufgefallen. Ich zog mir drei vom Stamm und legte mich seufzend darauf. Der Schlaf kam sofort. So vergingen wohl einige Stunden.

Es musste mittlerweile Tag sein, ich hörte Stimmen. Die Müdigkeit schien mich völlig einzunehmen. Ich hörte die Stimmen nicht über meine Ohren, sondern sah sie eher in meinem Kopf. Es fiel mir schwer die Augen zu öffnen, das machte aber nichts, sie würden mich mit Sicherheit gleich finden, darauf kam es an. Erleichtert bemerkte ich Schritte in meiner Nähe.

„Sie schläft.“ Brummte eine junge Stimme.

„Scheint wohl so. Schau genauer hin! Was siehst du?“ sagte eine knarzende, tiefe ältere Stimme.

„Ah, ich sehe meine Schuppe in ihrer Hand! Sie hat sie gefunden!“

Der Ältere seufzte. „Das hat sie wohl.“

„Oh nein, sie hat sie mit ihrem Blut verschmutzt und sogar eine Ecke abgebrochen!“

Dem folgenden, noch tieferen Seufzer nach zu urteilen war es nicht die richtige Antwort.

„Fass sie nicht an! Die Schuppe gehört nun ihr. Du hattest nicht auf sie aufgepasst. Du warst unvorsichtig und nicht besonnen, als du dich mit deinem Bruder unbedingt messen musstest!“

„Sie wird sie überhaupt nicht zu schätzen wissen! Sie hat doch überhaupt keine Ahnung, was sie da hält!“ Völlig entrüstet, versuchte der Junge zu argumentieren. „Kann ich sie wenigstens mitnehmen, wenn sie keinen Atem mehr hat? Sie hat viel Blut verloren.“

Das schien noch weniger die richtige Antwort zu sein. Der Ältere verlor das Weiche in seiner Stimme und fauchte dem Jüngeren die Worte heftig entgegen: „Hör auf, nur an dich zu denken! Sie braucht die Schuppe, um etwas zu erkennen! Yurak ist gleich da und wird sie mitnehmen.“

Die Enttäuschung des Jüngeren schwang in seinen Worten mit: „Sie weiß so wenig! Ich müsste ihr meine ganzen Schuppen geben, damit sie es begreift!“

Es gab einen wuchtigen Schlag, der sich mit dem Untergrund übertrug.

„Hey, das tat weh!“, entfuhr es dem Jüngeren und dann fügte er kleinlaut hinzu: „Entschuldige bitte, ich weiß es eigentlich…“

„Sie suchte und fand das Bunte. Bisher erkannte sie noch nicht, dass sie selbst für sich das fehlende Puzzlestück ist, um das Bunte zu einem Weiß des Ganz-Seins werden zu lassen. Alles ist eins. Jeder Einzelne ist ein Teil dieser Welt, der wichtig ist!…“

Der Ältere schien noch viel mehr zu sagen, doch die Worte erreichten mich nicht mehr.

„Wach auf!“

Ich öffnete meine Augen und sah mich in einem Bett liegen. Yurak saß neben mir. Fragend schaute ich ihn an. Mein Kopf musste erst einmal die Umstände sortieren.

„Du bist im Krankenhaus. Geht es dir gut?“

Ich nickte und sah ein Abstell-Tischchen an meinem Kopfende stehen. Der gefundene Stein lag dort und schimmerte im Licht, das durch die Fenster hereinfiel.

Yurak folgte meinem Blick und bemerkte lächelnd: „Du hast etwas ganz Besonderes gefunden! Vielleicht fand es ja auch dich.“

Mir fiel etwas ein. Meine Stimme klang noch etwas verschlafen und brüchig: „Ich habe jetzt eine Antwort auf deine Frage…“

Yurak lächelte: „Ich weiß.“

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Anm. z. Titelbild: Ausschnitt aus einer Ölmalerei http://www.angelika-poeter.de

Anm. z. Text: Der Name Yurak stammt aus einer Quechua-Sprache. Er bedeutet „weiß“.