Lass dich werfen!

Was bedeutet es, ein „guter Angreifer“ zu sein? Warum ist es für einen Aikidoka überhaupt wichtig? Schließlich möchte ich doch Aikido lernen, sprich: Ich möchte die Techniken lernen, sie verstehen und irgendwann frei von ihnen meinen eigenen Weg finden. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Sollte ein guter Aikidoka nicht mit jedem Angriff zurechtkommen, Hauptsache das Ergebnis stimmt? Erfahrene Lehrer sagen: Nur ein guter Angreifer (Uke), kann ein guter Verteidiger (Nage) werden. Es hört sich so allgemein an, ist es jedoch nicht.

Der Angreifer kann auf dich losstürmen, als stünde er dir auf der Straße gegenüber. Er wird auf dem Boden landen; für einen erfahrenen Aikidoka ist das kein Problem.

Der Angreifer kann dir gesittet entgegenkommen, damit dein Sinn sich auf ihn einstellen kann. Die Technik könnte dann von allen Zuschauern ruhig beobachtet werden. Er landet trotzdem auf dem Boden.

Der Angreifer könnte dir aber auch etwas schenken, womit wirkungsvolle Kunst ausgeübt wird. Er landet dann immer noch auf dem Boden, doch die entstandenen Schwingungen im Raum sind für alle spürbar.

Wer sich intensiv mit der Rolle als Angreifer auseinandersetzt und diese ausfüllen kann, der wird sich im Kampf mit seinem Partner harmonisch und koordiniert bewegen. Das Dojo ist ein geschützter Raum, um ausgiebig zu lernen. Hier kann sich jeder alle Zeit der Welt lassen, etwas besonders intensiv oder mit tausend Wiederholungen durchzuführen. Gegenseitiges Lehren und Lernen ergibt sich aus dem Moment heraus. Es gilt als Angreifer zu verstehen, dass sich die Trainierenden nicht in einem Kampf um Leben und Tod befinden, sondern sich gegenseitig helfen, die Aikido-Techniken bestmöglich auszuführen. Es gibt kein Kräftemessen, es gibt keine Aggression und es gibt kein „Besser-als“. Ist der Sinn beider Kämpfer darauf ausgerichtet, als Uke keinen Widerstand zu leisten und als Nage Harmonie zu schaffen, so wird sich Körper und Geist in diese Richtung entwickeln. [1]

Ein Kritiker könnte jetzt sagen, dass diese Umstände niemals der Realität auf der Straße entsprächen. Natürlich nicht! Wenn ich etwas voll und ganz begreifen möchte, so kann ich es nicht mit inneren Hemmungen lernen oder überhaupt intuitiv erfassen. Dafür benötigen wir ein freies Umfeld, das uns spielen und probieren lässt, bis es endlich ohne Überlegung von uns selbst ausgeführt werden kann. Das ist der eine Aspekt.

Sobald ein Aikidoka seinen Trainingspartner vor sich hat, bemerkt er, inwieweit sich sein Gegenüber auf die Situation einlässt, Freude an seinem Tun hat und vor allem, ob derjenige ebenso bereit ist, für die nächsten fünf oder zehn Minuten etwas Gemeinsames zu schaffen, das das eigentliche Handeln übersteigt.

Im schönsten Fall ist das Lächeln ein gegenseitiges Signal für etwas Aufregendes, das nicht nur mit innerer Konzentration seinen Beginn findet, sondern auch im Ausdruck der Bewegung zu erkennen ist und eine harmonische Einheit bildet. Das spielerische Tun lässt die Welt außen vor; es gibt dann nur noch die Matte und das Miteinander in Harmonie. In solchen Momenten zeigt sich der Aspekt der Kunst. Aikido schafft eine Realität, die nun nicht mehr als Kopie unserer Welt verstanden werden kann, sondern als etwas Neues. Wir bewegen uns dann auf einer anderen Ebene unseres Seins.[2] Vergangenes verknüpft sich mit Gegenwärtigem und bildet dadurch einen Weg, der auch im normalen Leben sichtbar wird. Kunst ist Kommunikation, die jede Sprache spricht und jeden erreichen kann. Ō-Sensei Ueshiba bezeichnete selbst sein Budo als eine Kunst, die vereint.[3]

Wer schon einmal zwei fortgeschrittene Aikidoka auf der Matte hat herumwirbeln sehen, spürt sofort das Bannende am Anblick. Das Runde, Geschmeidige und auch überaus Harmonische wird erkennbar. Es sind dann zwei Menschen, die sich gegenseitig einen Weg schenken, der „Toleranz und spirituelle Liebe jenseits jeglicher Formen“[4] offenbart.


Anm. z. Text: veröffentlicht unter https://aikido-aktuell.de/aikido_aktuell/ Ausgabe 3/2018 Nr. 171

[1] Kenjiro Yoshigasaki, Aikido, Kunst und Lebensweg, Heidelberg, 2015, S. 63

[2] Kenjiro Yoshigasaki, Aikido, Kunst und Lebensweg, Heidelberg, 2015, S. 63

[3] André Cognard, Kampfkunst und Zivilisation, Heidelberg-Leimen, 2002, S. 33.

[4] Lehre des Kobayashi Sensei, direkter Schüler von Morihei Ueshiba. André Cognard, Kampfkunst und Zivilisation, Heidelberg-Leimen, 2002, S. 33