Auch ich in Arkadien!

Es war der dritte Tag und alles klappte hervorragend! Zum allerersten Mal in meinem Leben reiste ich mit einer Gruppe in den Bildungsurlaub. Jedenfalls war dies die Bezeichnung des Reisebüros. Meine Freundin arbeitete dort und überhäufte mich zur Urlaubszeit immer wieder mit Werbung. Manchmal war ich über das Angebot begeistert und manchmal rief ich Silke an und fragte sie ernsthaft, ob es ein Scherz werden sollte. Doch als vor zwei Monaten der Vorschlag für diese Reise auf Goethes Spuren[1] zwischen meiner Tagespost lag, zog mich schon das Bild eines südlich angehauchten Hains in den Bann, so dass ich fast jedes Wort verschlang und meiner Freundin eine Nachricht schickte, um sie auf meinen Besuch am Nachmittag vorzubereiten.

Jetzt war schon alles Wirklichkeit geworden. Ich saß nun mit all meinen Plänen, dem Stundenplan für den kommenden Tag und einem Kaffee vor der Nase in der Morgensonne. Wie viele Bedenken hatte ich! Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass ich eine eingefleischte Einzelgängerin bin, die sich von nichts und niemandem etwas sagen lassen möchte und es deshalb normalerweise vorzieht, allein zu reisen. Unabhängigkeit ist ein nicht zu unterschätzendes Gut!

Leider gab in diesem Frühjahr meine altgediente Waschmaschine ihren Geist auf und überließ ihren Platz einer sündhaft teuren, energiesparenden Variante. Dieses Geld war eigentlich für meinen Urlaub gedacht und ich fand mich schon damit ab, wahrscheinlich nur ein paar Tage unterwegs zu sein. Mit der Werbung ging eine neue Tür auf, die mir ein Reiseziel bot, das ich immer schon im Auge hatte UND sogar mein Reisebudget nicht überstrapazierte. Es gab nur einen kleinen Haken: ich musste die Nähe anderer bei den Erkundungen erdulden oder besser gesagt, ich musste lernen, damit umzugehen. Ich nahm mir für die Entscheidung einen ganzen Abend und telefonierte noch mit Silke, deren Bodenhaftung mir schon so manches Mal geholfen hatte. Wie immer brachte sie meine Bedenken mit einem verbalen Handkantenschlag zu Boden und ließ meine Argumente glücklich über die Klippe stolpern. Sie kannte mich einfach schon viel zu gut.

So reiste ich mit zehn anderen Personen und saß deshalb und trotzdem ziemlich zufrieden vor meinem Kaffee in der südlichen Morgensonne. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Bevor ich diese Reise antrat, wollte ich mir selbst darüber im Klaren sein, warum ich reiste. Es ging nicht um das simple Erholen; keine Frage, zu manchen Zeiten konnte dies mit Sicherheit eine der größten Herausforderungen sein, aber diesmal wollte ich mehr. Goethe selbst nutzte seine Reisen für die Forschung in allen möglichen Bereichen. Er bezeichnete es einmal als die „Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält“. In meinen Augen eine ziemlich diffuse Umschreibung, die alles beinhalten konnte. Wahrscheinlich empfand er es ebenso, sonst hätte er nicht so weit gefächert seine Untersuchungen betrieben. Vielleicht kann etwas, „was die Welt zusammenhält“, in jedem Ding stecken, das wir in die Hand nehmen; vielleicht galt es auch nur, das Richtige zu betrachten, um einen leichteren Zugang zu diesem Etwas zu finden. Ich empfand diesen Gedanken als logisch. Angenommen, es wäre so. Das genaue Hinschauen lohnte sich dann. Ich weiß nicht, ob ich der Welt eine Antwort geben könnte, doch auf alle Fälle mir selbst, was immerhin ein guter Anfang wäre; es würde mich zufrieden machen, das wusste ich.

Also begleiteten meine Urlaubstage nicht nur Kunst, Kultur und Sonne, sondern auch die Frage: Welche Gemeinsamkeit haben die Dinge? Gab es einen Ariadne-Faden des Lebens, der, wenn wir ihn einmal erfassen, den richtigen Weg zeigen würde?

„Darf ich mich zu dir setzen?“

Überrascht legte ich meine Gedanken beiseite und schaute auf. Vor mir stand einer der netteren Mitreisenden, der sich mit einer Tasse Kaffee in der Hand mir gegenüber setzte. Von hier aus konnten wir über die Dächer der Stadt Verona blicken.

Verdammt, wie hieß der Typ gleich noch? Ich war wirklich bemüht, mir alle Namen zu merken, doch das bekam ich meistens erst hin, wenn ich längere Gespräche führen konnte und mich irgendetwas an den Menschen erinnerte.

„Klar, fühl dich frei, … ähm, wie war dein Name noch?“ Fragend blickte ich ihn an und betrachtete ihn ein klein wenig. Sein dunkles Oberhemd war ein guter Kontrast zu seinen blonden Haaren, die etwas abstanden. Seine Unterarme gefielen mir. Er schien mit seinen kräftigen Händen das Anpacken gewohnt zu sein oder er war regelmäßig sportlich tätig.

„Maarten.“

„Stimmt. Ich glaube, ich habe dich schon einmal gefragt…“ Schweigend betrachteten wir den beeindruckenden Horizont und tranken unseren Kaffee. Ich musste zugeben, schweigen konnte ich nicht mit jedem, reden schon.

„Und? Schon Pläne?“, fragte er mich.

Ich tippte mit dem Finger auf den Tagesplan für unsere Gruppe, der auf dem Tisch lag und lächelte. Er lachte.

„Das meinte ich nicht.“

„Was dann?“ Misstrauisch betrachte ich sein Gesicht. Ich wusste ziemlich genau, was er meinen könnte, doch ich würde ganz bestimmt nicht mit einem Fremden über meine Überlegungen reden.

Maarten nippte an seinem Kaffee und schaute mich nicht an: „Was war noch das Erste? Ach ja, das Eis mit Tomaten-und-Mozzarella-Geschmack. Als ich dein Gesicht sah, war ich ziemlich froh, mich für Schokolade und Erdbeere entschieden zu haben.“

Ich zuckte nur mit den Schultern. Jeder konnte Neues ausprobieren und es wäre nicht unbedingt erwähnenswert. Außerdem konnte ich Schoko und Erdbeere auch in Schleswig-Holstein essen und müsste dafür nicht in den Süden fahren.

Maarten bewegte sich gerade auf die feine Linie des „Kannst-du-dich-bitte-woanders-hinsetzen?“ hin. Was wollte er von mir? Ich beschloss, erst einmal da weiter zu machen, wo ich aufgehört hatte: Ich schwieg.

Mit dem Kaffeelöffel tippte er auf den Holztisch. „Nicht, dass du mich falsch verstehst. Es war mir nur aufgefallen“, er lächelte immer noch, „ich hab mich nur nachher gefragt, ob es wirklich so schrecklich war.“

Nun musste ich doch lächeln. Maarten war auf seine Art irgendwie charmant. Einen kleinen Moment schwiegen wir weiter.

„Wie fühlte sie sich an?“ Überrascht schaute ich ihn an; ich wusste sofort was er meinte und ich hätte schwören können, niemand hätte es gesehen. Die Äskulapnatter…das harmlose Tier hing in den unteren Ästen eines Baumes an dem wir als Gruppe vorbei gingen. Ich hatte die Symbolschlange der Mediziner immer nur auf Bildern gesehen; als ich mich unbeobachtet fühlte und die Gruppe schon weiter ging, betrachtete ich sie mir genauer (naja, und ich berührte sie kurz…).

Maarten beugte sich nach vorn und schaute mich ganz offen an: „Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten, doch das steckt mir wohl im Blut. Ich bin im normalen Leben bei der Polizei…“

Ein klein wenig war mir die Vorstellung unangenehm, dass mich jemand beobachtete, andererseits, wenn ich Maartens ehrlichen Ausdruck im Gesicht betrachtete, dann war es wohl ok, wenn er es tat.

„Kühl und samten und irgendwie eigenwillig. Sie gefiel mir.“ Die Erinnerung daran ließ mich lächeln. Im zweiten Moment fielen mir aber all die anderen Dinge ein, die ich im Laufe der letzten Tage im Glauben des Unbeobachtetseins tat. Ich fühlte das Rot in meine Wangen steigen. Etwas unsicher betrachtete ich Maartens Gesicht und schimpfte innerlich auf Silke. Bei der nächsten Diskussion über das Alleinreisen vs. Gruppenreisen hätte ich knallharte Fakten, die sie mir nicht einfach wegwischen konnte.

Gestern in Trient besuchte unsere Gruppe das Castello del Buonconsiglio mit Rundgang und Erklärung einer Fachfrau. Andere Reisende schlossen sich an und ich erhoffte mir, dass niemand zwischendrin merken würde, dass ich meinen eigenen Weg ging (ich hatte vorsichtshalber unserem Busfahrer meine Telefonnummer gegeben und um die Gefälligkeit gebeten, mich einfach immer zehn Minuten vor Abfahrt kurz anzuschreiben, damit ich rechtszeitig da wäre). Ich genoss meine eigenen Erkundungen, sprach mit den Mitarbeitern der Schlossanlage und ließ mir von ihnen eine ganze Menge erklären. Ich versank im Gefühl des Mittelalters und fühlte mich an einem verwunschenen Ort. Zugegeben, es war mein längstes „Verschwinden“ von der Gruppe. Die kleine Stippvisite in dem Ort am Brenner hatte ich dafür bewusst kurz gehalten. Bis dato glaubte ich wirklich, niemand bemerke meine kleinen Exkursionen. Wenn ich nun Maarten betrachtete, war ich mir überhaupt nicht mehr sicher.

„Heute Morgen beschloss ich, dich einmal anzusprechen.“ Etwas grinsend betrachtete Maarten meinen nunmehr wohl etwas verzweifelten Gesichtsausdruck. Ich war um sechs bereits in den Straßen von Verona unterwegs; schließlich befand ich mich in der Stadt von Romeo und Julia. Dies besondere Gefühl wollte ich unbedingt einfangen. Danach setzte ich mich hier zum Entspannen hin und genoss all die Bilder in meinem Kopf. Ich war mit meiner „Ausbeute“ meiner eigenen Erfahrungen ziemlich zufrieden.

„Du kennst doch Sandra, unsere Gruppenleiterin. Wir gingen zusammen zur Schule und ich bin, glaube ich, bestimmt schon das fünfte Mal in einer von ihr geführten Gruppe.“, Maarten legte eine kleine Pause ein und prüfte mit einem Blick in mein Gesicht, ob ich wirklich zuhörte, „Sie liebt ihre Arbeit und ist wirklich sehr ernsthaft bemüht, alles richtig zu machen. Ich finde sie macht es ziemlich gut.“ Ich nickte. Das fand ich auch.

„Als Gruppenleiterin empfindet sie auch eine gewisse Verantwortung für die Gruppenmitglieder. Wenn du so willst, ist sie sogar aus versicherungstechnischen Gründen verpflichtet, diese zu haben.“

Oha, jetzt wusste ich, woher der Wind kam. Ich fühlte mich nicht richtig wohl in meiner Haut. Andererseits bemerkte ich auch einen gewissen Widerstand in meinem Inneren. Niemand durfte mir sagen, was ich zu tun oder lassen habe. Ich war schließlich eine erwachsene Frau.

„Du tust einfach, was dir in den Sinn kommt.“, irgendwie rang Maarten nach Worten, „Nein, besser gesagt, du folgst den Dingen, die dir Spaß machen…wie soll ich sagen…als folgst du einem…“, jetzt besaß Maarten wirklich meine Aufmerksamkeit. Bitte sag nicht „Faden“!

„…als folgst du einem Band.“ Erleichtert hörte ich seine Worte und nahm einen Schluck Kaffee.

„Wie hieß noch der Mann, der den Minotaurus[2] erschlug?“

Ich verschluckte mich an meinem Getränk, so dass Maarten aufstand und mir vorsichtig auf den Rücken schlug.

Er setzte sich wieder, schaute mich ernsthaft an und fuhr in seinen Erklärungen fort: „Bevor ich jetzt lange herumerkläre, hier die Kurzfassung: Ich wollte Sandra ein wenig helfen, deshalb versprach ich ihr, nach dir zu schauen. Außerdem kann ich dich gut verstehen und würde dich gern auf deinen Touren begleiten, da sie mir bisher, auch wenn du mich nicht bemerkt hast, viel Spaß gemacht haben…“ Nun schaute er ein wenig verunsichert und holte tief Luft, „Und ich habe noch etwas zur Bestechung mitgebracht.“ Er stand auf und suchte in seinen Hosentaschen, bis er schließlich einen verknitterten Zettel hervorbrachte, ihn glatt strich und ihn mir gab.

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,

Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,

Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,

Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?

Kennst du es wohl?

Dahin! Dahin!…[3]

Ich lächelte und ließ mich gern bestechen. Gruppenreisen waren gar nicht so übel…

 

 

 

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Anm. z. Titel: Untertitel von Goethes „Italienische Reise“, ein Reisetagebuch, das er Charlotte von Stein gewidmet hatte.
Arkadien benennt einerseits ein gebirgiges Hochland auf der griechischen Halbinsel Peloponnes, ist aber auch ein poetischer Begriff für eine Wunschwelt, in der die Natur idealisiert und ein Freiheitsgedanke (frei von Konventionen) gelebt wird.
[1] Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, München, 1995.
[2] Griechische Mythologie: Laut Mythos wurde der Minotaurus von König Minos in ein Labyrinth verbannt und später von Theseus getötet, der dann mithilfe des Ariadne-Fadens das Labyrinth wieder verließ.
[3] Gedicht von J.W.v.Goethe: Mignon, 1. Strophe. Das Gedicht steht für die Sehnsucht, das Land Italien zu besuchen.