Das Pantheon

Immerhin bekam ich ein Zimmer nur für mich. Pater Frederik öffnete mir die etwas knarzende dunkelbraune Holztür. Mit einem dankenden Lächeln betrat ich den hellen Raum. Nun gut, ich musste zugeben, mein Lächeln gefror innerlich ein wenig. Das Wort „karg“ besaß in diesem Raum seine eigene Qualität. Doch eine Sekunde später nahm meine Freude wieder Fahrt auf. Es war trotz und alledem ein wunderschönes Zimmer! Die Morgensonne stand noch niedrig über dem Horizont, schien aber bereits durch die groß ausgelegte Fensterfront. Hell-beige, grobe Baumwoll-Vorhänge verstellten noch halb die Sicht zum großen Garten. Links stand ein etwas breiteres Futon-Bett mit hellblauem Bettzeug bestückt. Ein kleiner Tisch mit einer urigen Leselampe, zwei Stühle mit dunkelblauen Sitzkissen und ein heller kleiner Holzschrank für die mitgebrachte Wäsche „füllte“ den Raum. Langsam nahm ich meinen Rucksack von den Schultern, sah den Pater an und fand nur ein Wort: „Schön!“

Verschmitzt lächelte er mich an. Insgeheim erinnerte er mich an Pater Brown in der alten Verfilmung mit Heinz Rühmann. „Es ist mein Lieblingszimmer, du wirst in den nächsten zwei Wochen immer als Erste die Sonne scheinen sehen.“

Glücklich lächelte ich ihn an: „Ich freue mich sehr auf die Zeit!“

Nickend verabschiedete sich der Klosterbruder und zog eine an seinem Gürtel angebrachte Taschenuhr hervor: „Du bist Burkhards Gast und hast keine Verpflichtungen. Unseren Tagesplan findest du auf dem Tisch; du kannst an allem teilnehmen oder zuschauen. Die Essenszeiten sind ebenfalls eingetragen. Wenn du möchtest, erreichst du mich heute Morgen im Büro, falls sich Fragen ergeben.“ Die Tür schloss sich und ich stand in der absoluten Stille; naja, nicht ganz. Fern hörte ich die Bauarbeiten, die am anderen Ende des Klosters vorgenommen wurden. Der alte Bau musste ein wenig auf den neuesten Stand gebracht werden. Nach zwei Wochen wird der „Normalbetrieb“ mit der Unterbringung von Managern, Gestressten und Sinnsuchenden wieder aufgenommen. Ich besaß das große Glück durch besondere Umstände während dieser Zeit hier als Gast wohnen zu dürfen. Normalerweise hätte ich mir einen solchen Aufenthalt niemals leisten können.

Ich warf meinen Rucksack auf das Bett und probierte die Festigkeit der Matratze; hart, aber wirklich gut. Schließlich ging ich zum Fenster, öffnete die Vorhänge zu beiden Seiten und entriegelte die schmale Terrassentür, die inmitten der großen Fensterreihe eingelassen war. Tief einatmend genoss ich die Morgenluft, die noch kühl vom Garten kam. Die kleine Terrasse würde mir in den nächsten Tagen die Gelegenheit geben, meinen Stuhl und Tisch hier draußen stellen zu können. Der Garten besaß die Größe eines normalen Ackerfeldes, also ganz schön groß. Verschiedene Wege durchzogen bunte Gruppen von Beeten, Bäumen und Blumenabschnitten. Die Bundesgarten-Schau hätte ihre Freude gehabt. Hier arbeiteten Menschen mit praktischem Sinn, Ordnung und vor allem einer Liebe zur Schönheit.

Die Sonne wärmte bereits ein wenig. Genießend blieb ich einfach im Türrahmen stehen. Burkhard kannte ich gefühlte hundert Jahre aus der Schulzeit. Ich erinnerte mich an einen blassen, groß gewachsenen Jungen, der immer ein wenig besonders war. Er las damals schon unendlich viel, wusste vieles, was andere sich niemals vorstellen konnten und er betrachtete mich irgendwann mit anderen Augen. Normalerweise hatten wir damals nicht viel miteinander zu tun. Die Jungen interessierten mich nur als Spielkameraden mit denen ich gut in der Pause Völkerball spielen konnte, mehr nicht. Irgendwann organisierte unsere Klassenlehrerin ein Theater-Stück, das mir gut gefiel; doch was wir aufführten, konnte ich heute nicht mehr sagen. Die Proben waren witzig und mit viel Gelächter verbunden. Das machte Spaß. Irgendwann besprachen wir eine Szene, in der sich ein Paar begrüßen sollte. Die Darstellerin war richtig schlecht und ich konnte darüber nur meinen Kopf schütteln. Meine Lehrerin sah es und bat mich, es einmal mit meinen Vorstellungen vorzuführen. Innerlich seufzend und doch mit demonstriertem Selbstbewusstsein kam ich auf die Bühne und stellte mich dem Augenblick und Burkhard, der mir gegenüber stand. Irritiert bemerkte ich seinen Blick. So stürmte ich in seine Arme. Er hielt mich eine Sekunde länger als notwendig und wurde noch blasser als sonst. Der Moment verging und zwei Tage später drückte er mir, bevor ich in den Bus einstieg, einen Zettel in die Hand. Nichts ahnend steckte ich ihn mir in die Hosentasche und ließ ihn dort, bis ich für mich allein sein konnte. Denn eines wusste ich, der Zettel war etwas Besonderes, den ich niemanden zeigen wollte. Mit Herzklopfen öffnete ich später das zusammengefaltete Papier und sah in Burkhards eigenwilliger Handschrift ein Gedicht mit mehreren Strophen vor mir liegen. Fast atemlos las ich es, bis mein Herzschlag beim Lesen der letzten Zeile aussetzte. Erschrocken ließ ich den Zettel aus der Hand fallen. Ich war noch viel zu jung, ich war noch viel zu verspielt, um diese drei Worte zu hören. Mir war die Ernsthaftigkeit des Schreibers absolut präsent. Ich wusste intuitiv, dass er es auch so meinte wie er es schrieb. Es war keine Tändelei, nicht von ihm.

Meine Gedanken führten mich wieder zurück ins Zimmer, ich setzte mich auf den Stuhl und nahm die Tagesplanung in die Hand. Ich wollte an allem teilnehmen, egal, wie kurios es sein würde. Ich las den ersten Tagesordnungspunkt und dachte nochmals über das Wort „alles“ nach. Vor Sonnenaufgang um fünf Uhr gab es ein erstes Treffen in der Kirche zu einem Gebet und Gesang. Erst eine Stunde später durfte gefrühstückt werden. Für beides war es nun schon zu spät. Oh, gleich begann die Chorprobe in der Kirche! Burkhard erzählte bei unserem letzten Treffen von dem neuen Gotteshaus. Es war neu und doch alt. Die Steine stammten noch von einem Gebäude aus dem 14. Jahrhundert, der Rest fand sich vor einem halben Jahr zu einem neuen Gemäuer mit modernster Heizung und Elektrik zusammen. Der gesamte Dachstuhl war auch ausgetauscht. Das wollte ich mir ansehen.

Ich betrat die Kirche und damit eine neue Welt. Hier waren Künstler am Werk! Ich weiß nicht, was ich erwartete, doch ganz bestimmt nicht, was ich sah: Alles war rund, die Mauern, die Sitzordnung der Bänke und sogar das Dach. Der Altar befand sich in der Mitte auf einem erhöhten Punkt und Jesus Christus hing an einem großen hölzernen Kreuz, das inmitten des Raumes von mehreren Stahlseilen gehalten wurde. Das Dach bestand fast nur aus Fenstern, die mit grobem Leinenstoff zum Schutz vor der Sonne per Knopfdruck verhangen werden konnten. Im Grunde wirkte die Kirche wie ein großes Planetarium oder vielleicht auch wie das Innere einer Blüte oder auch wie zwei Hände, die etwas Kostbares hielten. Einzelne langgezogene Fenster standen im Moment einen Spalt auf, wahrscheinlich wurde gelüftet. Ich fühlte mich sofort geborgen und aufgehoben. Um niemanden zu stören suchte ich mir einen seitlichen Platz am Eingang, der trotz der Entfernung zum Altar eine gewisse Übersicht erlaubte.

Still betrachtete ich dieses wunderbare Bauwerk, blickte auf die alten Steinwände und dachte an all die Menschen, die sie vielleicht in den letzten Jahrhunderten berührt hatten. Innerhalb ihres Schutzes wurde geheiratet, getauft und Segen verschenkt. Ich blickte auf das Kreuz. Gottes Sohn inmitten dieser Zeit. Er verband Menschen, half Liebe zu erkennen und vor allem diese weiterzugeben. Es war eine Art des Glaubens, für mich war sie richtig und gut; für andere nicht. Jeder Mensch besaß ein Anrecht darauf, sich eine eigene Religion zu erwählen oder als Atheist seinen Weg zu gehen. Es war unwichtig, wie wir unseren Gott nennen; er hatte viele Namen. Es war unwichtig, wo wir lebten und mit wem und es war unwichtig, wie oft wir in die Kirche gingen, denn Gottes Kirche war überall, sei es in einem Gebäude oder auf der höchsten Spitze eines Berges.

Wirklich wichtig war das tiefste Gefühl, dessen eine Seele mächtig war; es schloss unsere Wunden, es umhüllte unser Sein und es war ein Geschenk, das wir nicht leichtfertig missachten sollten. Denn ohne diesen inneren Schatz verkümmern wir und sterben, bevor wir den letzten Atemzug in unseren Lungen spüren.

Ich blickte auf die Glaskuppel und sah darüber hinaus: Ich sah den blauen Himmel, ich sah die Sterne, die auf mich herunter blickten und doch meinem Auge verborgen blieben. Die Erde drehte sich und zog ihre Kreise im Universum mit anderen Planeten. So der Ewigkeit hinterher spürend, erfasste mich eine tiefe Männerstimme mit einem langgezogenen ersten Ton. Fast erschrocken und doch ein Lächeln auf mein Gesicht zaubernd, fokussiere ich meine Gedanken in den Raum. Unbemerkt hatte die Chorprobe begonnen. Von meinem Platz aus konnte ich neben dem Altar auf einem Podest drei Männer stehen sehen, die zueinander gewandt ihre Stimmen erhoben. Ihre Körper bewegten sich mit dem Gesang, ihre Gesichter lächelten, ihre Freude am Tun war unübersehbar. Die Stimmen erfüllten den runden Raum, durchzogen jeden Platz und steigerten die schon stark spürbaren Energien, die sich mit der Schönheit der Farben und dem Licht verbanden.

Ich wollte für immer hier verweilen, ich wollte nie wieder gehen, ich wollte hier sein, geborgen in einer Blüte, die mich umfing. Ich schloss meine Augen. Die Stimmen vibrierten in meinem Zwerchfell und trugen mich durch den Raum. Alles war da, gemeinsam mit mir.

Mit dem Verstummen des Gesangs schloss ich die helle, schwere Tür der Kirche hinter mir und atmete tief die Luft des Vormittags. Am gegenüber liegenden Gebäude öffnete sich zur gleichen Zeit eine weitere Tür und Burkhard kam mir entgegen. Lachend winkte er mir zu. Heute führte er ein Kloster und doch sehe ich immer noch den blassen Jungen vor mir, der nun braungebrannt von der vielen Gartenarbeit, frohgemut durch seine gelebte Bestimmung und mit ganzem Herzen eines Glücklichen mich begrüßte und in die Arme schloss. Wir waren gute Freunde; gute Freunde mit einem kleinen Geheimnis in Strophen.

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Anm. z. Titel:
  1. Antiker Tempel für alle Götter oder einem Tempel ähnliche Gedächtnis- oder Begräbnisstätte nationaler Persönlichkeiten
  2. Gesamtheit der Götter einer Religion