Veränderungen

Ich las[1], dass Ueshiba Morihei nicht selbst den uns heute geläufigen Aikido-Techniken den Namen gab. Sein Sohn Kisshomanu übernahm dies, um ihnen mehr Struktur zu verleihen[2]. Ungläubig schaute ich auf, ging zum Bücherregal und schlug das Lehrbuch des Gründers[3] auf. Tatsächlich. Jetzt hatte ich schon so oft in dieses Buch hineingeschaut und trotzdem war es mir nicht einmal aufgefallen. Mit den Bildern und der Umschreibung war für mich diese oder jene Technik eindeutig erkennbar! Er benutzte Nummern unter dem Vorzeichen des Angriffs. Ließ es sich deshalb sagen, er war nicht konkret in „dem Lehren seiner Methode“[4]?

Wenn wir über Handlungen oder Aussagen längst verstorbener Personen nachdenken, kann das Ergebnis immer nur eine Vermutung bleiben. Solche Gedanken führen in die Nähe der damaligen Wahrheit oder entfernen sich auch von ihr; sie sind immer eine versuchte Interpretation. Selbst das Fragen von Zeitzeugen oder Verwandten wäre lediglich eine Annäherung, da diese ebenso nur eine persönliche Deutung wagen. Jeder Mensch besitzt seine eigene Wahrheit.

Worin liegt der Unterschied, ob ich eine Handlung mit einer Nummer versehe oder ihr einen Namen gebe? Die Nummern sind neutral. In eine „2“ lässt sich schwer etwas hinein interpretieren. Sie besagt lediglich, dass von einem Ding eine zweite Version existiert oder etwas an zweiter Stelle steht; nicht mehr oder weniger. Es wird mit einer Nummer eine Information vermittelt, die keine persönliche Wertung enthält. Genauso gut könnte ich sagen „es regnet“ oder „die Sonne scheint“; es ist eine Information ohne Einfärbung durch meine Person.

Lag allein hierin schon der Grund, warum Ōsensei seine Techniken mit Nummern versah? Wollte er etwas auf neutrale Art und Weise vermitteln? Wenn ja, musste ihm nicht dennoch bewusst gewesen sein, dass die Schüler es unterschiedlich aufnahmen?

Es kommt nicht von ungefähr, dass heute viele verschiedene Arten der Ausführungen existieren und auch verschiedene Schwerpunkte gelegt wurden und werden. Selbst das „Gesamtpaket“ dieser Kampfkunst wird so manches Mal auseinander gepflückt: Die einen nutzen den sportlichen Aspekt, andere wollen sich damit weiterentwickeln und dazulernen und wieder andere sehen Aikido als eine Lebensphilosophie, die sie ihr Leben lang begleiten wird; daran ist nichts Verwerfliches! Es ist schön, wenn sich viele Menschen einer Sache widmen, die sie weiter bringt, egal in welchem Maße!

Manchmal bemerken wir erst im Laufe der Zeit, beim Nutzen von Dingen oder beim Ausüben von Handlungen, ob etwas praktikabel ist. Ōsenseis Sohn versah die Techniken mit Namen, um mehr Struktur entstehen zu lassen. Namen tragen Wertungen mit sich, die im Leben und im Miteinander entstanden sind. Jeder hat z.B. ein anderes Bild im Kopf, wenn über eine Blume gesprochen wird. So lässt ein Wort ein Bild entstehen und dieses Bild wandert dann in unsere Erinnerungen, dort wird es  verankert. Befinde ich mich in einer Aikido-Prüfung und der Prüfer ruft mir „Shiho-nage irimi Yokomen-uchi“ zu, dann weiß ich, dass er den Angriff mit einem schrägen Schlag und die Ausführung eines direkten Shiho-nage meint. Er hätte auch genauso gut „Nr. 12“ sagen können. Ehrlich gesagt, fällt mir die Umsetzung mit einem Namen leichter, da damit ein Bild in meinem Inneren angesprochen wird.

Jede Generation entdeckt neue Dinge, erkennt neue Zusammenhänge, macht neue Fehler, hat aber auch mit neuen Anforderungen zu kämpfen, die es vielleicht in den Jahren zuvor nicht gab. Es ist ein Leichtes, Taten unserer Vorfahren zu verurteilen. Hätten wir wirklich mit dem damaligen Wissen, mit den damaligen Umständen anders gehandelt? Niemand weiß es.

So war es gut, dass Kisshomaru etwas veränderte. Es war mit Sicherheit im Sinne Ōsenseis, denn er schrieb selbst:

Der WEG ist unermeßlich. Von alters her bis heute konnten nicht einmal die größten Weisen die ganze Wahrheit erfassen und begreifen; die Erklärungen und Lehren der Meister und Heiligen drücken nur einen Teil des Ganzen aus. Es ist niemandem gegeben, von solchen Dingen in ihrer Gesamtheit zu reden. Strebe einfach nach dem Licht und dem Feuer, lerne von den Göttern und werde eins mit dem Göttlichen durch die Tugend hingebungsvoller Übung. Suche Erleuchtung an dieser Klinge.[5]

 

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[1] Aikido-Journal, Edition 2/2018, 94DE, S. 14.
[2] Aussage im Interview, Aikido-Journal, Edition 2/2018, 94DE, S. 14
[3] Morihei Ueshiba, Budō, Das Lehrbuch des Gründers des Aikidō, Heidelberg, 1997.
[4] Szabols Gollob aus Budapest im Interview mit Horst Schwickerath, Aikido-Journal, Edition 2/2018, 94DE, S. 14.
[5] Morihei Ueshiba, Budō, Das Lehrbuch des Gründers des Aikidō, Heidelberg, 1997, S. 37.