Ein kurzer Blick auf das Thermometer ließ mich noch einen Pulli unterziehen. Nichts war schlimmer, als auf meinen morgendlichen Spaziergängen zu frieren. Norddeutschland konnte im Frühjahr echt empfindlich kalt sein.
Wir brauchten ungefähr zwanzig Minuten, bis der Weg begann, den nur ich ganz allein kannte. Irgendwann hatte ich mich getraut, irgendwann wollte ich so sein wie Frodo und Sam, die gemeinsam mit Gollum[1] durch die Totensümpfe einen Weg fanden, um an ihr Ziel zu gelangen. Zum Glück gab es hier keine Wasserleichen. Überhaupt gab es nicht so viele Wasserstellen, doch es gab eine Menge scheinbar festes Land, das ab und zu unter meinem Gewicht nachgab. Ich musste zugeben: Das wirkliche Gespür für den richtigen Weg besaß eigentlich mein Hund. Irgendwie schien er einem eindeutigen Band zu folgen, das nur an dieser oder jener Stelle weiterlief. Ich vertraute ihm. Im letzten Jahr überlegte ich, Markierungen anzubringen, doch dann würden auch andere diesem Weg folgen und er würde nicht mehr mir allein gehören. Das war ziemlich egoistisch, doch diese Tatsache verkraftete ich.
Ich freute mich schon jetzt auf die Pause in der Mitte der Strecke. Im kleinen Rucksack hatte ich eine Thermoskanne mit heißem Kaffee, eine kleine Wasserflasche und getrocknetes Hühnchenfleisch für meinen Scout. So bekam jeder, was er brauchte. Wir zelebrierten diese Pause als eine kleine Belohnung. Seit 128 Tagen gingen wir jeden frühen Morgen 8,75 Kilometer. Das Wetter war mit uns und immerhin hatte ich es geschafft, bis jetzt meine Füße trocken zu halten. Träumerische Personen achteten nicht immer auf ihren Tritt und gerieten dadurch das eine oder andere Mal bis zum Knöchel in den Modder.
Wie immer suchte ich nach besonderen Steinen oder Mitbringseln oder einfach Merkwürdigem, was später in meinem Rucksack und schließlich auf einer freien Stelle im Bücherregal landen würde. Pflanzen pflückte ich nicht, es reichte, dass ich manchmal auf ihnen herumwandern musste, damit ich trockenen Fußes blieb. Gleich gab es Kaffee! Das Leben war gut zu mir! Aus dem Augenwinkel nahm ich etwas Blinkendes in einem Wasserloch wahr. Skeptisch beäugte ich in die Hocke gehend die nicht erkennbare Tiefe der Pfütze. Manche Fehler machte ich nur einmal: Im letzten Jahr griff ich unbedarft in solch eine Wasserlache und durfte anschließend eine mir nicht wirklich bekannte Schneckenart von meiner Hand fummeln. Ich hoffte jedenfalls inständig, dass es Schnecken waren und nicht irgendwelche Egel. In solchen Momenten konnte etwas Hektik ausbrechen. Das prägte.
Immer noch darüber nachdenkend, ob ich hineingreifen wollte, begann ich bereits meinen Pulli am rechten Arm hochzuziehen; manchmal wusste mein Unterbewusstsein wohl schon vor mir, was ich wollte oder nicht. Beinahe musste ich laut lachen. Was ist, wenn es ein Ring wäre! Das hätte doch einen richtig coolen Charakter! Es wäre dann nicht nur mein Weg, sondern auch mein Ring. Tolkien hätte seine Freude! Dann müsste ich zu Hause den Kamin anwerfen, um die Feuerprobe durchzuführen; schließlich würde ich ungern mit etwas Bösem unter einem Dach leben, ohne es zu wissen. Vor mich hin kichernd besaß ich die Freude, der Fantasie freien Lauf zu lassen. Meinem Hund machte das nichts aus. Er liebte mich mit allen Merkwürdigkeiten und dachte im Moment nur an seine Wegzehrung in meinem Rucksack.
Doch ein klein wenig aufgeregt, ob des eventuellen Fundstücks hier im Moor tauchte ich langsam meine Hand in das Wasserloch. Ich versuchte meine Klein-Mädchen-Vorstellung von glitschigen Würmern oder zustechenden Wasserkäfern beiseite zu schieben. Fantasie war ja gut und schön, sie konnte aber so manch tapferes Herz ein klein wenig einschüchtern. Was war, wenn mich etwas Giftiges stach und ich schaffte den Weg nicht mehr nachhause? Dann stirbst du als Abenteurerin, ist doch was. Das schafft nicht jeder. Irgendwelche Gesteinsplatten ragten von den Seiten her in das Loch. Der Boden fühlte sich tatsächlich ziemlich glitschig an. Ich wollte nicht wissen, wie viele verwesende Dinge ich durcheinander wirbelte. Jetzt war das Wasser trüb und wenn ich erfolgreich sein wollte, brauchte ich jetzt Geduld. Mein Hund hatte sie, der saß mir gegenüber im Sitz und starrte mich sabbernd an.
Wie lange würde ich suchen? Bis mein Arm taub vor Kälte war? Ich wollte unbedingt das Mitbringsel mit nach Hause nehmen. Vielleicht war es etwas total Altes, das ich normalerweise in einem Moor-Museum finden würde, irgendetwas aus vergangener Zeit, was seinen Weg zu mir gefunden hatte, wenn ich es aus diesem Schlamm befreite. Ha! Ich ertastete etwas Festes, vermutlich aus Metall. Begeistert wollte ich meinen Arm, der bis über den Ellbogen hinaus im Wasser versenkt war, herausziehen. Überrascht stellte ich fest, dass es nicht ging. Etwas hielt mich am Handgelenk. Was…? Mich mit der anderen Hand auf dem festen Boden neben dem Loch abstützend, zog ich, so gut ich konnte. Autsch! Mit meinem Ziehen entstand ein Widerstand um mein Handgelenk. Das gab es doch nicht!
Wenn die Situation nicht so ernst wäre, würde ich mich erst einmal setzen und darüber lachen, doch dann wäre meine Hose nass geworden; der mittlerweile fast durchnässte Pullover reichte schon.
„Chapper, nu‘ hilf mir doch!“ Mein Hund saß da und betrachtete mein Tun mit Interesse, bewegte sich jedoch kein Stück. Er legte seinen Kopf schräg, als würde er sich über meine Dummheit wundern. Was ich absolut verstehen konnte. Wer steckte schon seinen Arm in eine Moorpfütze mit unbekanntem Grund. Wer weiß, was mich nun eines Besseren belehren wollte? Mein Puls steigerte sich langsam in Höhen, was mir nicht gefiel. Es fiel mir schwer nachzudenken. Ich bildete mir jedenfalls ein, dass mein Verstand immer und zu jeder Zeit eine Lösung fand (was bisher immer so war). Irgendeine destruktive Person soll ja einmal gesagt haben „es gibt immer ein erstes Mal“, doch das ließ ich für meinen Kopf nicht gelten. Die Evolution hatte sich Jahrtausende bemüht, uns vom Höhlendasein zu befreien, dann konnte niemand mangels Ideen im Moor verhungern.
Evolution! Affen! Konnte die Lösung so einfach sein? Oha, diese Lösung wollte ich aber nicht! Ich sah mein Fundstück bereits mit einem kleinen Metallschild und einem Verweis auf mich als Finderin versehen im Museum liegen. Wenn ich dies unbedingt wollte, müsste ich mich um eine B-Lösung wegen meiner prekären Situation bemühen, die mir nicht einfiel. Ich benahm mich wie eine Äffin, die ihre Hand in einen hohlen Baum steckte, da sie wusste, dass dort vor einigen Minuten etwas von anderen versteckt worden war. Ich wollte es unbedingt haben, deshalb löste ich meinen Griff nicht und behielt eine Faust, die nun nicht mehr durch den Zugang passte – eine beliebte Handhabung von Affenjägern. Viele Grüße an meine Urahnen! Jeder trug wohl immer schon einen Teil seiner Geschichte mit sich herum, ohne es überhaupt zu bemerken.
Ich schloss meine Augen, um mir selbst näher zu sein. Die Dinge dieser Welt gehörten allen! Nicht-Teilen hieße nicht nur, Wesentliches in Frage zu stellen. Es hieße auch, dass ich nur bereit wäre, zu teilen, wenn es mir leicht fiele. Andererseits nahm ich auch von dem Schönen, das Andere mir gaben: Nähe, Liebe, Anerkennung, Unterstützung und das wunderbare Wohlgefühl, mit viel Lachen gemeinsam die Welt erobern zu können. Ich nahm von der Welt und wollte nicht geben? Und sei es einen metallenen Gegenstand, den ich nicht einmal genauer kannte, den ich aus den Jahrzehnten seines Daseins reißen wollte, nur um ihn zu besitzen? Was war ich denn für Eine? Wollte ich wirklich auf ein Haben-Wollen-für-mich-ganz-allein reduziert werden?
Ich öffnete meine Augen, sah in die fragenden Knopfaugen meines Hundes und ließ los. Meine Hand ließ sich ohne weiteres aus dem Wasser ziehen. Mein gelöstes Auflachen veranlasste mein Gegenüber mich begeistert anzubellen. Recht hat er! Wahrscheinlich lachte er mich aus! Jetzt wurde meine Hose doch noch nass, denn ich saß auf den Grassoden. Grinsend ignorierte ich diese Tatsache, stand auf, nahm meinen Rucksack vom Rücken und packte unser Pausenvergnügen aus. Endlich meinen ersten dampfenden Kaffee in der Hand haltend, sah ich der aufgehenden Sonne am Horizont entgegen, dessen Rosarot sich über den neuen Tag zog.
„Was meinst du Chapper, sollte ich vielleicht nachher in den Baumarkt? Die haben doch bestimmt Markierungen für besonders schöne Wege!“
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Ja, Ja, das Moor…Morbider Charme vergangenen Lebens und mit mystischem Erzählungen behaftet. Hier kann man schon mal seinen Tritt verlieren, doch es ist eine Landschaft voller Leben und Zauber. Ich fühle mich dort immer sehr geborgen auch wenn mir moorige Gedanken durch den Kopf wabern. Mit einem Begleiter wie Chapper lassen sich aber solch Wege sicher begehen. Sehr schön geschrieben liebe Christine.
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Vielen Dank! Ein Hovi-Scout ist unbezahlbar 🙂
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