Kabinett

Hamburg war cool; also in den Seitengassen, am Wasser, in Planten un Blomen und urigen kleinen Wegen, die von innovativen Menschen bunt mit kleinen Geschäften, Cafés und Kuriosem gefüllt wurden. Jetzt trieb ich mich jedoch schon drei Stunden lang in der Mönckebergstraße und Umgebung herum, um Dinge zu bekommen, die das Landleben einfach nicht hergab. Ein-, vielleicht zweimal im Jahr überredete ich mich selbst zu dieser Geißelung und war hinterher immer die ganz stolze Besitzerin von schon lang benötigten Utensilien.

Warum mich dieses Gewusel in diesem Maße Kraft kostete, konnte ich nicht einmal sagen. Alle um mich herum schienen glücklich und zufrieden zu sein, nur ich stapfte mit einem genervten Gesichtsausdruck durch die Läden. In der letzten halben Stunde konnte ich auch nichts mehr erbeuten; ein sicheres Zeichen, dass es Zeit wurde, langsam ein Ende zu finden. Da konnte mir irgendwas Schickes genau vor meiner Nase hängen, doch ich würde es in diesem müden Zustand nicht mehr als lohnenswertes Objekt erkennen. Genau. Erleichtert über meinen Entschluss steuerte ich zielgenau in die nächste Seitengasse. Ah, hier hatte ich gleich ein ganz anderes Gefühl. Mein Gesicht fand sein Lächeln zurück und ich roch den Duft frisch aufgebrühten Kaffees, der aus einer einladend aussehenden Bäckerei strömte. Geht doch! Etwas Schönes musste dieser Tagesausflug unbedingt für mich bereithalten, schließlich hatte ich in eine Tageskarte für den öffentlichen Nahverkehr investiert und die musste unbedingt noch ein wenig genutzt werden.

Drei Becher Kaffee und zwei Buttercroissants später fühlte ich mich wieder aufgefüllt und sehr zufrieden mit mir selbst. Ich schulterte meinen Rucksack, nahm ab und zu einen Bus und freute mich auf ein Herumstromern in den Eingeweiden der Großstadt:

Richtung Jungfernstieg reihten sich Kunstgalerien und Luxusgüter aller Art aneinander; allemal einen Blick wert. Hineingehen würde ich mit Jeans, Pulli und Rucksack nicht, doch das machte nichts, da die Schaufenster groß genug waren. Neugierig wanderte ich kopfschüttelnd über die Preise zum nächsten Fenster. Handtaschen! Wer brauchte Handtaschen? Ich verweigerte diese Erfindung schon mein Leben lang. Einen Rucksack konnte ich auf den Rücken nehmen und hatte meine Hände frei für die Erkundung meiner Umgebung. Eine Handtasche würde ich aus der Hand legen und wahrscheinlich überall liegen lassen, da mein Kopf mit anderen Dingen beschäftigt war.

Italienische Schuhe… Wow, die waren wirklich hübsch! Sie waren fantasievoll mit Praktischem verbunden, nicht zu ausfallend und trotzdem sehr elegant. Die Italiener besaßen wirklich Geschmack. Trotzdem brauchte ich diesen schönen Laden nicht zu betreten. Die Normgrößen befanden sich unterhalb meiner Fußlänge. Mit einer Schuhgröße von norddeutschen Mädeln bedacht, würde ich den Verkäuferinnen nur ein müdes Lächeln entlocken. Italienerinnen waren zart und schmal und passten wahrscheinlich in Aschenputtels Glasschuh. Diese Tatsache hatte ich schon seit Jahrzehnten verarbeitet und verkraftet, deshalb konnte ich mich unbedarft begeistern.

Ich schlenderte weiter und blickte ins nächste Fenster. Ach herrje! Mit einem Satz sprang ich zwei Schritte zurück, glücklich darüber, dass nicht gerade jemand hinter mir ging. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich bereits vor meinem Lieblings-Antiquariat stand. Ich hob die Augenbrauen. Quatsch! Natürlich wusste ich das. Schließlich ging ich jedes Jahr erst an den Taschen und dann an den italienischen Schuhen vorbei, um hier ein paar vergnügliche Stunden zu verbringen. Es wurde Zeit, so manchen Fakten ins Auge zu blicken: 1. Ich bin ein Bücher-Junkie. 2. Ich ließ jedes Mal ein kleines Vermögen in diesen Räumlichkeiten und nahm dafür fünf Kilogramm Bücher mit. 3. Der Inhaber war sehr nett. (Ein geneigter Leser darf die Fakten gern nochmals unter dem Aspekt ihrer Wichtigkeit verschieben.)

Als stünde ich in einem Hamburg-Krimi, lugte ich mit einem Auge ins Schaufenster, das von mehreren Strahlern aus allen Ecken hell erleuchtet wurde. Verschieden hohe Bücherstapel verteilten sich auf der Darbietungsfläche zusammen mit Deko-Materialien wie groben Holzscheiten, gut gemachtem Plastik-Efeu (oder war es echt?), drei Rotwein-Flaschen, passenden Gläsern und langen Zündhölzern für einen Kamin. Hier schien sich jemand auf ein Thema festgelegt zu haben. Diese Dinge hatten allerdings nicht meinen Hüpfer verursacht. Der Auslöser dafür saß im Schneidersitz inmitten der Schaufensterdekoration, hatte ein blau-schwarz-kariertes Holzfällerhemd übergezogen und schwarze Wollsocken an, die sogar selbstgestrickt sein könnten. Die lockigen kurzgeschnittenen Haare waren wie immer durcheinander, als wäre er schon hundert Mal mit der linken Hand durch seine Haare gefahren. Außerdem stützte er seinen Kopf mit einer Hand ab und hielt mit der anderen ein Buch auf seinem Schoß fest. Die Helligkeit der Lampen war fast gleißend, da wohl noch von der letzten Dekoration im Stil der Siebziger Jahre überall Spiegel-Tropfen an den Seiten klebten und sich dadurch wohl jeder Strahl verdreifachte. Das war nicht ganz mein Geschmack.

Absolut von den zu lesenden Worten gebannt, der Welt entrückt und trotzdem auf dem Präsentierteller derselben, saß er nun da. Als hätte er alle Zeit der Welt und als gäbe es nichts Wichtigeres in diesem Moment, das ihn vom Lesen des Buches abhalten könnte. Jetzt wagte ich mich ein kleines Stück näher, als berechtigte mich die Tatsache, dass dieser Mann im Schaufenster saß, ihn genauestens zu betrachten. Der Gebannte bannte mich. Seine absolute Intensität im Tun, das Überhaupt-nicht-Abschweifen vom Objekt seines Interesses beeindruckte mich. So manch einer könnte nun sagen: Meine Güte, der Kerl liest, na und? Ich kannte seinen Zustand nur zu gut. Es war ein Aufgehen in einer anderen Welt, die dann die nur einzig Existierende sein konnte.

Mittlerweile stand ich fast direkt vor ihm; wäre nicht die Glasscheibe gewesen, so hätte ich ihn mit meinem Arm fassen können. Seine Jeans war abgewetzt, vielleicht auch nur modern. Manchmal kosteten diese schon im Vorwege kaputt gehauenen Stoffe ein Vermögen. Die aufgekrempelten Ärmel zeigten muskulöse Unterarme; schön anzusehen. Seine freie Hand hielt er nun mit gespreizten Fingern über den Seiten, als müsse er den Moment des Blätterns abpassen, um nicht eine kostbare Sekunde seines Vergnügens zu verlieren.  Ab und zu stahl sich ein Lächeln in sein Gesicht. Kleine Lachfältchen zeigten sich dann an seinen Augenwinkeln. Sie gaben ihm einen ruhigen, gelassenen und doch überaus fröhlichen Ausdruck; ich mochte das.

Einen winzig kleinen Augenblick lang durchzog ein Gedanke meinen Sinn: Ich las ihn. Er las ein Buch und ich las ihn. Jede Kleinigkeit seines Körpers, jede seiner minimalen Bewegungen nahm ich in der Betrachtung auf. Nichts entging mir im gleißenden Licht. Seine Versunkenheit übertrug sich von ihm auf mich. Ich hätte genauso gut die dort Lesende sein können und er der Betrachter, es hätte sich nicht anders angefühlt. Ein unendlicher Zustand, wenn nicht ein Zucken seiner Gesichtsmuskeln mich aus dieser Art von Trance hervorgezerrt hätte.

Zuerst war es das Bewegen seiner Mundwinkel, dann ein Lächeln, das beide Ohren erreichte und schließlich ein Lachen, bis er seinen Blick nicht mehr auf dem Buch halten konnte und mich ansah. Paralysiert starrte ich ihn an und wollte am liebsten in einem Erdloch versinken. Es tat sich keines auf, so musste ich dort stehen bleiben, wo ich war. Ich spürte mir das Blut ins Gesicht steigen und ich wusste, ich konnte einer Tomate eine ernsthafte Konkurrenz sein. Ich konnte mich nicht bewegen und hielt deshalb immer noch meine Daumen hinter den Trägern meines Rucksackes geklemmt, als stünde ich an einem Ausblickspunkt für Touristen.

Dieser Mann lachte mich an, als kannten wir uns nicht nur von den wenigen Begegnungen der letzten Jahre. Er schaute kurz auf sein Buch und nahm ein Blatt Papier, das wohl auf seinem Buch gelegen hatte. Ich hatte es vorher aufgrund des Blickwinkels nicht gesehen. Er nahm dieses Blatt Papier, drehte es und drückte es mit der Schriftseite an die Glasscheibe. Er nickte und forderte mich damit auf, das Geschriebene zu lesen. Sein Lachen beruhigte sich und wurde zu einem aufmunternden Blick.

Spiegel: noch nie hat man wissend beschrieben,

was ihr in eurem Wesen seid.

Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben

erfüllten Zwischenräumen der Zeit.[1]

Etwas von Rilke! Schlagartig wurde mir bewusst, dass die kleinen Spiegeltropfen an den Seiten des Schaufensters zum Thema gehörten, da Rilke über „Spiegel“ schrieb, dass diese ebenso auf den Boden der Schaufläche geklebt waren, dass dieser unmögliche Mann überhaupt nicht gelesen hatte und dass er die ganze Zeit aufgrund der Spiegel mich ebenso betrachten konnte wie ich ihn!

Ich schämte mich unendlich. Bestürzt fiel es mir schwer, ihm in die Augen zu sehen. Er lachte und winkte mich mit der freien Hand hinein. Ich holte tief Luft und versuchte mich zu beruhigen, denn ich hatte nichts getan, was er nicht auch getan hatte: Wir spiegelten uns in einem Zwischenraum der Zeit und fanden es schön.

 

 

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Anm. zur Überschrift:
  1. Die Gesamtheit der Minister eines Staates
  2. Kleiner Nebenraum für Sammlung spezieller Kunstobjekte
[1] Rainer Maria Rilke, Die Gedichte, Die Sonette an Orpheus, III, 1. Strophe, F.a.M., 1986, S. 696.