Der magische Schraubschlüssel

Eigentlich sind wir alle Handwerker. Naja, nicht jeder besitzt wetterfeste Kleidung oder diese klasse Hosen mit tausend Taschen, doch eines haben wir wirklich alle: Einen überdimensionalen Werkzeugkasten, der auf mehreren Ebenen in allen Größen feine, wuchtige, verspielte, schön anzusehende und vor allem wirklich, wirklich sinnvolle Gerätschaften versteckt hält. An manchen Tagen liegt eines dieser Dinge einfach herum. Wir betrachten es, wir denken darüber nach, wofür wir es dabei haben und manchmal, in unseren Sternstunden begreifen wir, welchen Schatz wir eigentlich besitzen. Dann öffnen sich Fenster, die endlich die Sonne in einen schattigen Raum hinein fluten lassen.

Wo verstecken sich diese Wunderobjekte? Niemanden überrascht es zu hören, dass diese praktischen Dinge in den Fängen von Synapsen ihren Moment des Erscheinens abwarten. Geduldig strecken sie ab und zu einen winzigen Arm in Richtung der Alltagsgedanken, doch diese sind so mächtig, dass dieses zaghafte In-Erinnerung-Bringen grob beiseite gewischt wird. Hier zählt die Macht des Vielgenutzten, das schon Strandpromenaden mit Namenssternen auf dem Asphalt besitzt und mit Sicherheit kein Interesse daran hat, den eigentlichen Eigentümern dieses Paradies abzugeben.

Ich sitze mit Sportkollegen in einem Vereinsheim, das gut besucht zu sein scheint. Wir haben unsere Jahresversammlung, bekommen aber keinen eigenen Raum. Laute Musik und der normale Lärm einer Gastwirtschaft stehlen uns immer wieder die Konzentration, einfach ist anders. Wir nehmen die Hälfte einer langen Tischreihe ein und bestellen noch die Getränke. Etwas angestrengt spitze ich meine Ohren, da ich kaum die Worte unserer Vorsitzenden, die mehrere Plätze entfernt etwas erklärt, verstehen kann. Dies ist auch kein Wunder, da ich schließlich als eine der Letzten zu der Gruppe kam und dadurch mit diesem Platz vorlieb nehmen musste. Links von mir, am freien Ende der Tischreihe sitzen zwei Männer bei einem Bier.

Irgendetwas stimmt nicht. Ersichtlich verärgert stand einer der beiden Männer auf, um die freien Stühle zu meiner Linken schräg zum Tisch zu stellen, so dass der einladende Charakter eines freien Platzes sich in Luft auflöste. Ich könnte genauso gut zur Sperrstunde zwischen hochgestellten Stühlen sitzen in der Erwartung, dass gleich die Reinigungskraft käme. Sofort ist Unmut greifbar, ohne irgendein Vorspiel. Plötzlich fühle ich mich mit ernsten Gesichtern konfrontiert, ohne einen Schluck von meiner Cola genommen zu haben. Völlig irritiert stehe ich auf und beginne die Stühle wieder normal hinzustellen. Sofort fühlt sich einer der älteren Herren bemüßigt, ebenfalls aufzustehen, um meine Handlung wieder rückgängig zu machen. Wahrscheinlich könnten wir das den ganzen Abend spielen.

Überrascht frage ich ihn, warum er so handelt. Er informiert mich darüber, dass er jeden Freitagabend zu dieser Zeit mit sieben anderen genau hier am Tisch zusammen sitzt. Er wolle nur verhindern, dass noch mehr Personen aus unserer Gruppe ihm diesen Platz streitig machen. Oh! Spontan fallen mir die obligatorischen Handtücher auf Strandliegen ein, die im Sommer bereits morgens um sieben Uhr verteilt werden, damit auch noch nach dem Frühstück ein schöner Platz für den etwas später aufstehenden Urlauber gesichert ist. Die Situation im Vereinsheim kann jedoch gerettet werden, indem unsere Gruppe doch noch einen ruhigen Raum zur Verfügung gestellt bekommt. Alles ist gut. Ist es so?

Gewohnheit gibt uns das Gefühl der Sicherheit. Wir brauchen nicht mehr darüber nachzudenken, ob etwas gut und richtig ist. Wir können dieses Etwas einfach ohne Überlegung tun; irgendwann haben wir vermutlich darüber nachgedacht und das reicht ja wohl. Gewohnheit gibt uns einen Rahmen, der dort wie einbetoniert steht und an dem ich mich festhalten kann. Versuchen Sie einmal einem Menschen, der jahraus und jahrein jeden Abend drei Stunden fernsieht, dieses Medium zu nehmen! Er wird sich unwohl fühlen, er würde sich mit einer Leere konfrontiert sehen, die eine neue Entscheidung über die frei gewordenen Stunden erzwingt. Das ist die dunkle Seite der Medaille.

Drehen wir das gute Stück ganz unbedarft herum, ist es ein Wunderinstrument höchster Güte! Es ist ein Instrument unseres Kopfes, das wir viel zu selten nutzen. Angenommen, ich möchte Spanisch lernen und erzähle mir schon seit Ewigkeiten, dass ich niemals die Zeit dafür finden würde, da ich ja einen vollen Tag hätte. Angenommen, ich höre meinen Entschuldigungen nicht mehr zu. Ich tue so, als wäre ich ein Mensch mit freiem Entscheidungswillen und nehme mir das schon vor Jahrhunderten gekaufte Lehrbuch und beginne, die ersten fünf Vokabeln über den Tag auswendig zu lernen. Am nächsten Tag ignoriere ich mich nochmals und zwinge ein „¡Hola, buenos días!“[1] in meine Gehirnwindungen. Jeder fortlaufende Tag gespickt mit neuen Vokabeln bestätigt mir, wie toll ich bin. Spätestens nach zwei Wochen wird mir meine selbst auferlegte Geißel zu einer lieb gewordenen Beschäftigung werden und ich freue mich darüber, meinen aus Spanien kommenden Nachbarhund in seiner Muttersprache begrüßen zu können.

Was könnte ich alles lernen? Vielleicht sollte ich es mit Latein probieren, das habe ich meinen Lebtag lang nicht begriffen… Was könnte ich alles tun? Rückenschmerzen kann jeder mit einer täglichen Drei-Minuten-Übung bekämpfen… Vor allem: Welchen Weg würde mein Leben nehmen, wenn ich anfinge, meinen Träumen den Raum zu geben, den sie verdienen?

 

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[1] „Hallo, guten Tag!“