Auren sind wertfrei ohne Harm, sie sind wie sie sind und lassen sich nicht manipulieren. Die einen sehen sie, andere spüren sie und so manchen Menschen ist beides vergönnt. Es ist ein Geschenk und eine schwere Bürde… Ich akzeptierte die Bürde, die mich bereits mein Leben lang verfolgte und betrat vor zehn Jahren als Schülerin das Haus der Schamanin. Sie bat mich zu kommen und ich wusste warum. Jeder folgte ihr, wenn sie rief, doch ich zögerte. Es gäbe keinen Weg zurück. Nicht mehr die Wahl zu haben, war grausam. Es war dann ein Herabrutschen an einem Berg mit Geröll. Der Boden bot dann keinen Halt mehr, sondern half dabei den Wagemutigen von seiner Anmaßung zu befreien, er könnte beim Abstieg noch irgendeinen Einfluss auf seine Zukunft ausüben. Ich ging sehenden Auges in diese Zukunft und trotzdem haderte ich in manch stillen Minuten mit mir selbst. Mein Leben würde immer fern von anderen seinen Lauf nehmen, es würde immer ein Verheimlichen sein, denn ein Anderssein beunruhigte Andere. Sie konnten dich und deine Gedanken nicht einschätzen und irgendwann wollten sie es auch nicht mehr.
So stand ich vor ihrer Tür und wollte diesen Schritt wirklich bewusst gehen. Es wäre das Letzte, das ich noch in den Händen hielt. Hinter dem Eingang wäre es nur noch ein Geben. Ein ewiges Geben an andere Seelen, die Hilfe suchten und selbstverständlich von mir bekommen würden. Gab es noch eine Wahl? Ich ließ mich fallen. Ich ließ mich in ihre Hände fallen und sie wusste sehr wohl, was ich damit sagen wollte. Es missfiel ihr. Keine Schamanin würde sich so benehmen. Ihre Erwartungen waren hoch, fast untragbar. Ihre Augen durchbohrten mich bis auf meinen Grund mit einer Strenge, die sie wahrscheinlich bis zu ihrem letzten Atemzug mir gegenüber zeigen würde. Als ihr Blick mich traf, wusste ich, dass auch sie wusste, einen riesigen Berg an kommenden Problemen vor sich zu haben. Das freut niemanden. Mir war es egal, sie hatte gerufen, nicht ich. Seufzend richtete sie mich auf, nickte, legte ihre rechte Handinnenfläche unterhalb meines Halses und schloss die Augen. Ich hasste sie dafür. Sie wollte mich brechen, sie wollte mich bestimmen, sie wollte mich erkennen, doch diesen Gefallen tat ich ihr nicht. Sie spürte es sofort. Unsere Auren würden sich niemals vereinigen, wir waren beide aus dem gleichen Holz, doch ich hatte noch mehr Kraft, da noch nicht so viele an mir gezehrt hatten. Das war vor zehn Jahren gewesen. Heute lag ihre Asche am Hang der Kraft, der gen Osten eine von alters her bestimmte Begräbnisstätte der Schamaninnen war. In vielleicht zehn Jahren würde ich mich ebenfalls nach einer Nachfolgerin umschauen, doch soweit war es noch nicht.
Heute zeigte sich der Frühling von seiner besten Seite. Der Festplatz summte. Bunte Gestalten bereiteten sich vor, bauten auf, nagelten noch an den Brettern für den Tanz oder scheuchten all die Kinder, die mit bunten Bändern in den Händen herumliefen, da sie später das Fest mit dem Bindetanz des Versprechens beginnen würden. Ich liebte diese Eröffnung für etwas, das die Gemeinschaft daran erinnerte, was im Leben wichtig war: Freude am Zusammensein, Verschenken der um uns herumschwirrenden Energie und ein überschäumendes Herz der Liebe für all das, was lebte. Es gab Jahre, da glühte meine innere Kraft noch Tage danach und ich dankte meinem Schöpfer für die mir geschenkten Gaben; sie zeigten mir die Menschen in ihrer Freude. Sie sprühten nicht nur in ihrem Sein, sie verbanden ihre Auren zu einem auf den ersten Blick fast unkontrollierten Durcheinander. Doch wenn ich genauer hinsah, sah ich das Verketten zu einer gemeinsamen Helix, die auf einem Fest schließlich zu einem übergroßen Muster des Funkelns wurde.
Heute band auch ich bunte Bänder in mein hüftlanges Haar. Mädchen halfen am frühen Morgen den Frauen diese kleinen Kunstwerke zu vollbringen. Es gab keine Frau im Ort, die nicht schon allein ob dieser wirklich vergnüglichen Vorbereitung strahlte. Wir alle sahen wunderschön aus, denn wir leuchteten von innen, lachten und zeigten uns schließlich am Nachmittag in unserer Pracht den Männern, die ebenfalls ihr Bestes an ihrem Äußeren zu vollbringen versucht hatten. Wir kamen am Baum der Blüte zusammen, der bereits seine rosa Tulpen öffnete und damit einen süßlichen Duft verbreitete, der einen dicht Stehenden fast betäubte und aller dunklen Gedanken beraubte, wenn überhaupt an solch einem Tag welche vorhanden sein konnten.
Die ersten Minuten waren für mich immer sehr aufschlussreich über die Beziehung in meinem Ort. Heimliches wurde offensichtlich, Nicht-Erahntes zeigte sich und das Verschenken von Blicken trug die inneren Wünsche an die Oberfläche; mir blieb nichts verborgen. Ich stand als eine der ersten am Baum im Schatten der Blüten, um dieses Aufeinandertreffen und Miteinander beobachten zu können. Es war mir immer eine Freude, die mich einfach glücklich das Leben genießen ließ. Ich sah über das geschäftige Begrüßen, Bestaunen und gegenseitige Austauschen von Komplimenten hinweg, um eine Unebenheit in der Menge zu bemerken, die mein Auge bisher nicht sofort erkannt hatte. Sicherheitshalber blickte ich mit einer veränderten Schärfe meiner Augen zurück, um schließlich bei einem Gesicht hängen zu bleiben, das auf mich ausgerichtet zu sein schien. Er! Ich holte tief Luft. Seine Ankunft hatte er gut verborgen, er musste in der Nacht unser Dorf erreicht haben. Er lächelte, nickte mir zu und ließ seinen Blick auf mir ruhen, als erlaube ich ihm diese Freizügigkeit. Sein Dorf feierte in wenigen Tagen das Frühlingsfest, so wunderte es mich ein wenig, dass er die Zeit fand, das unsrige zu besuchen. Nein, eigentlich nicht, denn seit zwei Jahren besuchte er unser Dorf immer nur an diesem Tag und ich wusste sehr wohl, warum er kam. Ich würde meinen Blick nicht senken, er auch nicht; ein Spiel seit zwei Jahren, das immer erst durch die Menschen um uns herum für einen Moment unterbrochen wurde. Seine Aurafarbe war ein helles pulsierendes Blau von starker Intensität, ungewöhnlich genug, dass ich ihn nicht sogleich bemerkte und wahrnahm; die Farbe passte zu seinen Augen. In so manch verbotener Stunde wünschte ich mir, ihn fragen zu können, wie er mich sah. Ich kannte meine Aurafarbe nicht, meine Lehrerin verheimlichte sie mir. Heute wusste ich, dass es ihr ewiger Trumpf in der Hinterhand war, um mich an sie zu binden.
Als ich den Schamanen aus dem anderen Ort zum ersten Mal sah, beeindruckte mich seine Präsenz im Sein, sein Betrachten der Welt auf eine starke, fordernde und sehr genaue Art, die den Fokus eines jeden in seiner Nähe auf sich zog. Seine Haare trug er stark kurz geschnitten, was seine markanten Gesichtszüge hervortreten ließen. Heute stand er da, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er trug die Kleidung der meisten Männer: Hemd, Hose, Stiefel. Sein helles Baumwollhemd betonte die muskulöse Schulterpartie und seine geschmeidige Statur. Er besuchte unser Dorf zum dritten Mal. Die Zahl drei war magisch; ich wusste es, und mein Herz pochte bei diesem Gedanken. Andere Gesichter schoben sich zwischen unseren Blick und ich drehte mich zur Seite, um mich an den Baumstamm zu lehnen. Meine Hände berührten die Rinde, um etwas Wirkliches, etwas Raues zu berühren, das nicht meinen Gedanken entsprungen war. Natur beruhigte und half bei der Bodenhaftung innerer Unruhen. Ich zwang mich, meine Aufmerksamkeit auf die Gemeinschaft zu richten, deshalb stand ich eigentlich hier und nicht, um von jemand anderem fokussiert zu werden.
Die Eröffnungstänze lagen bereits hinter uns. Helle Farben der Freude durchzogen die Luft über den lachenden und sich bewegenden Menschen. Ich fühlte mich wohl und geborgen und wäre am liebsten weiterhin dabei gewesen, doch ich hatte andere Aufgaben. Die meisten von ihnen sah ich bereits durch meinen ersten Blick auf die Menge: Ich suchte die Menschen mit einem Riss in ihrer Aura oder sogar abwandernden Farben, die darauf hinwiesen, dass andere Personen in ihrem Umkreis Energie aus ihrem Körper sogen. Manchmal zeigten sich diese Blockaden oder Zerstörungen nur an winzigen Stellen, doch manchmal gab es wirklich bedauernswerte Geschöpfe, die einfach nicht wussten, wie ihnen geschah. Wenn ich kam, erkannten die meisten von ihnen, was sie zu tun hatten. Sie sollten mit mir kommen und für den Rest des Tages mit einem anderen Menschen zusammen sein, den ich ihnen aussuchte. Die richtige Gemeinschaft konnte heilen. Sie konnte das zusammenfügen, was zusammen gehörte. Niemand wagte, sich gegen meinen Willen zu stellen; sie würden sonst für den Rest des Jahres auf meine Hilfe verzichten müssen. Doch das war bisher noch nicht geschehen, alle wollten helfen.
Ich suchte nach Farben. Genau genommen suchte ich nach Komplementärfarben. Es sind Farben, die gemeinsam ein Weiß ergeben, die Farbe der Reinheit und Klarheit. Fand ich eine grün schimmernde unvollständige Aura, so suchte ich nach einer rötlich schimmernden perfekten Aura, fand ich eine violette unvollständige, so suchte ich nach einer gelblich perfekten, bis irgendwann im Laufe des Tages alles zusammengefügt war. Nicht umsonst, sagt der Volksmund: Gegensätze ziehen sich an! Es war eine Art Puzzle mit sehr ernstem Hintergrund, es war meine Art zu heilen. Bereits am frühen Nachmittag konnte ich mich zufrieden zurück lehnen und auch selbst das Fest genießen. Meine Arbeit war getan.
Ich freute mich. Jetzt kamen die Schaukämpfe. Sie waren immer schön anzusehen, wenn sich niemand verletzte; es passierte auch nur selten. Ein Kampf stellte ein Kunstwerk dar und sollte dadurch unterhalten. Es war mit Sicherheit auch ein Demonstrieren und Zurschaustellen der Männer für die Frauen, also ein Vergnügen. Die guten Hemden lagen bereits auf einer extra ausgebreiteten Decke. Überrascht schaute ich auf. Leuchtendes Blau fing mein Auge ein. Er schaute nicht zu mir, dennoch hätte ich schwören können, dass er genau wusste, dass ich ihn gerade jetzt sah.
Er kämpfte, um sich zu zeigen. Er kämpfte, um mich seine Präsenz spüren zu lassen, die unweigerlich meine Gedanken berührte, sobald er den Raum betrat. Also gab ich ihm das, was er wollte: meine Aufmerksamkeit. Die bekam heute jeder Einzelne von mir, warum also auch nicht er? Eines musste ich ihm lassen, seine Bemühungen waren eindeutig und sehr schmeichelhaft. Kurz bevor es begann, schenkte er mir dann doch einen kurzen Blick. Er suchte nach dem Verborgenen auf dem Grunde meiner Seele, das ich ihm um keinen Preis zeigen wollte. Jegliche Erkenntnis macht frei und gleichzeitig stark, da das Gegenüber sich selbst ausliefert und hingibt. Soweit war ich noch nicht.
Genau betrachtete ich jede Bewegung. Ich sah sein Bemühen, sah seine Kraft und seine Wirkung auf mich. Wenn ich mich nicht belügen wollte, so musste ich einfach akzeptieren, dass er eine eindeutige Anziehungskraft auf mich besaß. Was würde er mir geben können, das ich nicht schon lebte? Ich war rund in mir selbst, ich besaß meine Lebensaufgabe, ich fand mich geborgen im Weltgeschehen. Würde er mich nicht vom Eigentlichen abhalten? Verwirrende Gedanken durchzogen meine Gefühle, den Moment des Betrachtens und mein Innerstes.
Außer Atem gaben sich die Kontrahenten die Hände, um sich für einen fairen Kampf zu bedanken und holten sich schließlich ihre Hemden von der Decke.
Der Schamane kam auf mich zu. Ich bewegte mich nicht, sondern ließ das Blau auf mich wirken. Ich stand wieder im Schatten des Baumes und berührte unbewusst seine Rinde in der Hoffnung, darin allen Halt der Welt zu finden, den ich mit jedem Meter sich verringernden Abstands verlor. Er kam viel zu nah, näher als es schicklich gewesen wäre. Sein Brustkorb hob und senkte sich aufgrund der soeben durchstandenen Kraftanstrengung. Seine Präsenz umhüllte mich. Er schaute in mein Gesicht, schaute an mir herab und löste meine Hand von der Rinde.
„Die brauchst du nicht mehr.“ Er wandte sich wieder ab, um sich anzuziehen. In der Bewegung drehte er sich nochmals zu mir um, als hätte er etwas vergessen.
„Sie ist übrigens orange mit hellen Lichtfäden.“ Ich schaute ihn mit großen Augen an. Jetzt wusste ich, was er mir geben konnte. Er legte mir ein Weiß zu Füßen.
Wieder eine sehr schöne Geschichte, Christine 😊. Spricht mich wieder von ganzen Herzen an.
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Wie schön! Danke:)
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