Der Flieger setzte ruckelnd auf. Geschafft! Lächelnd schaute ich aus dem kleinen Fenster in den blauen Morgenhimmel. Hey, mein Urlaub beginnt! Obwohl ich meine Augenringe förmlich wie eingebrannt auf meinen Wangen spürte, legte sich das Gefühl der fast endlos scheinenden und noch vor mir liegenden drei Wochen wie eine riesige Welle des Wohlgefühls auf mein Zwerchfell. Mein kleines Zehn-Personen-Unternehmen lief von allein; jedenfalls versicherte mir das meine Freundin, Sekretärin und Frau-für-alle-Härtefälle, die mich bestimmt schon seit zwei Jahren bekniete, endlich auch einmal Urlaub zu nehmen. In diesem Sommer hörte ich auf sie; ich musste unbedingt wieder Energien sammeln. Mit Wanderstiefeln und zehn verschiedenen Büchern bepackt, freute ich mich auf viel Draußensein, viel Ruhe und Entspannung.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.[1]
Warum mir diese Zeilen von Rilke gerade jetzt in den Kopf kamen, das konnte ich wirklich nicht sagen; vielleicht, weil ich so manche seiner Gedichte einfach liebte und ihn nur allzu gut mit seinen Merkwürdigkeiten zu verstehen glaubte. Vielleicht lag der Gedanke aber auch im Zusammenhang mit meinem Ferienprogramm, das ich mir schon ganz bunt ausmalte. Ich würde alles ausprobieren, was der Ort hergab. Ich werde jeden Weg gehen und ich würde so viel essen, dass ich mindestens zwei Kilo zunehmen werde. Ich wollte mir keine Grenzen ziehen, sondern nur frei die Tage genießen. Schnell noch ein Auto mieten, zwei Stunden Fahrt hinter mich bringen und dann wäre ich dort, wo es Wasserfälle gab, wo die Natur bewusst so gelassen wurde, um ein Naherholungsgebiet ohne Konkurrenz zu schaffen und wo es laut Reiseführer die besten vegetarischen Gerichte since ever gab.
Die Tage verflogen, als wagten sie sich an einen Marathon der Güteklasse. Nur noch eine Woche blieb von der kostbaren Zeit. Meine I-want-to-do-list besaß nur noch einen einzigen, nicht durchgestrichenen Punkt: Klippenspringen. Alles war möglich. Es gab die Sprunghöhe von 5 m, es gab 15 m und es gab 30 m. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass ich meinen Jugendschwimmer (das heutige Silber-Abzeichen) nur mit einem Übermaß an Selbstbeherrschung schaffte. Es war das erste und bisher letzte Mal, dass ich von einem 3m-Brett sprang.
Mit diesem Hintergrund könnte die Frau von Welt sagen, dass es ziemlich egal wäre, ob ich meinen letzten Punkt abhakte oder nicht. Stimmt schon. Doch Ehrgeiz erwartete eine gewisse Furchtlosigkeit vor den Unbillen der Welt. Wer alles ausprobieren wollte, fürchtete nichts mehr, denn die Grenzen waren in jeglicher Hinsicht überschritten. Sollte dann wirklich irgendeine Form von Angst dieses köstliche Urlaubsgefühl einschränken? Wie würde es sich anfühlen, wenn ich wieder in den Flieger stiege und es nicht wenigstens versucht hätte? Ok, das Gefühl reichte aus, um mich anzumelden.
Eine junge Frau saß hinter der Theke des Hotels und telefonierte gerade. Sie zeigte auf einen Hocker, damit ich dort Platz nahm, bis sie sich um mich kümmern konnte. An der Wand hinter ihr hingen drei Bilder von den Lehrern, die für das Klippenspringen gebucht werden konnten. Nummer eins sah aus wie ein Beachboy, der frisch aus seinem Ei geschlüpft zu sein schien. Nur mit Badehose bekleidet zeigte er seine durchtrainierten Bauchmuskeln und ein lupenreines Lächeln. Mit solch einem Jüngling konnte ich nichts anfangen. Nummer zwei war eine dunkelbraun gebrannte Frau meines Alters, die wahrscheinlich täglich im Fitness-Studio ihre Muskeln formte. Nach spätestens zehn Minuten würde ich mich schlecht fühlen, weil ich nicht solch eine Superfigur im Bikini abgab wie meine Lehrerin. Nummer drei war interessant. Nummer drei war ein Mann mittleren Alters, dessen Gesicht bereits kleine Lachfältchen um seine Augen herum zeigte. Er präsentierte sich auf dem Bild in Jeans und T-Shirt als jemand, der wahrscheinlich auf die Emotionen seiner Schüler eingehen konnte, da er bereits eine Menge Erfahrung mit Menschen besaß. Keine Frage, wen ich als Lehrer wählen würde.
Eine Stunde lang musste ich mir seine Sicherheitshinweise anhören. Er informierte mich auch darüber, dass sie sich hier alle duzten und sein Name Raphael wäre. Die ersten 30 Minuten hörte ich noch wirklich bemüht zu, doch dann begann ich meinen Lehrer genauer zu betrachten und schweifte dadurch unweigerlich etwas ab. Manchmal blickte er etwas irritiert auf, doch das störte mich nicht; ich hatte Urlaub. Auf seine Frage hin, welche Höhe ich mir denn vorstellen würde, antwortete ich ihm, dass ich natürlich nicht nach den Sternen greifen wollte, doch ein fünf Meter Brett bekäme ich schließlich auch in jedem Schwimmbad geboten. Er nickte und packte seine Sachen ein, die er wohl immer dabei haben musste. Als ich meine eigenen Worte in meinen Gedanken etwas nachhallen ließ, fühlte ich mich schon nicht mehr ganz so selbstbewusst. In den letzten Tagen genoss ich immer wieder die Sonne am See mit den drei Wasserfällen und konnte dadurch die Springer in aller Pracht bewundern. Meine Hochachtung besaßen sie. Sie schienen fast unter einem Zwang zu stehen. Wer einmal sprang, versuchte sich fast den ganzen Tag, immer und immer wieder. In meiner Vorstellung sprang ich natürlich auch, elegant mit viel Haltung. Natürlich, doch dafür musste ich wohl ein paar Hürden nehmen.
Ich schwitzte. Der Weg, um zu der Absprungstelle zu gelangen, war nur ein kleiner Trampelpfad mit Steinen und Unebenheiten und die Sonne brannte bereits, als gäbe es kein Morgen mehr. Endlich angekommen präsentierte sich die Belohnung für den Aufstieg.
„Oh, das ist schön!“ Die Aussicht konnte nicht besser sein. Die Weite des Landes präsentierte sich hügelig und im Hintergrund mit einer Bergkette, die durch die Wetterlage klar und deutlich ihre Konturen zeigte. Das war mein erster Blick, mein zweiter folgte meinem Wegführer bis an die Absprungkante. Unweigerlich nahm ich tief Luft. Einfach unglaublich! Der See sah von hier oben wie ein verwunschener Edelstein aus. Er schimmerte blau-grün, glitzerte wie tausend Funken in der Sonne und lockte mit dem Anschein einer Erfrischung für den überhitzten Wanderer. Gerade eben schien jemand vor uns gesprungen zu sein. Ich sah die zügigen Schwimmbewegungen des Springers von hier oben aus. Das Wasser offenbarte all seine Geheimnisse und damit auch die unglaubliche Freude desjenigen, der den Mut besaß, diese Höhe in fast fliegender Weise zu überwinden. Warum war ich gleich noch hier? Ich hatte Bauchweh. Mit einem kleinen Seitenblick schaute ich zu meinem Lehrer, der gerade seinen Rucksack auf einem kleinen seitlichen Holztisch auspackte. Ich zog meine Augenbrauen hoch. Er packte Picknick-Sachen aus! Er schaute auf, traf meinen skeptischen Blick, lächelte und bot mir wortlos einen der zwei Baumstämme als Sitzplatz an.
Völlig unsicher setzte ich mich zu ihm und schaute ihn etwas fragend an. Ohne auf mich zu achten, drehte er eine Thermoskanne auf, öffnete eine Tupperdose mit Kekskringeln und eine mit roten Weintrauben. Außerdem zog er noch zwei Ferngläser aus dem Rucksack; das eine legte er neben meinen Kaffeebecher und das andere neben den seinen. Immer noch wagte ich nichts zu sagen. Er strahlte eine Gelassenheit und Ruhe aus, die meine innere Unruhe glättete, sie förmlich mit einer warmen Hand zur Ruhe kommen ließ und im Grunde die Notwendigkeit einer Handlung von meiner Seite überhaupt nicht einforderte. Er tat so, als wären wir tatsächlich für ein Picknick hier und wollten mit den Ferngläsern die Aussicht und vielleicht die Springer beobachten. Vielleicht würde er vergessen, dass ich viel Geld für seine professionelle Begleitung als Trainer zahlte und ich die Akteurin des Momentes sein wollte.
Noch immer sagte er keinen Ton. Schaute mich fragend an, ob ich nun Milch zu meinem Kaffee wollte oder nicht und widmete sich voll und ganz den Handlungen eines guten Gastgebers.
„Du bist eine erfolgreiche Geschäftsfrau mit einem eigenen Unternehmen?“ Ich nickte, ja, so könnte es ein Betrachter sehen.
„Du hast bisher immer alles gemacht, was du dir vorgenommen hast?“ Oh ja, so könnte es formuliert werden.
„Möchtest du mit mir die Aussicht ein wenig genauer betrachten?“ Er hielt mir nun mein Fernglas hin, so dass ich es entgegennahm und nickte. Warum war ich gleich noch hier? Ich wollte meinen letzten Punkt auf meiner I-want-to-do-list abhaken können, ich wollte nicht an einer alten Angst scheitern. Irgendwie wäre es ein prinzipielles Scheitern, das mich voll und ganz in Frage stellen würde. Es würde in Frage stellen, inwiefern ich selbst Herr meines Daseins war, inwiefern ich noch die Richtung meines eigenen Weges in der Hand hielt. Das durfte ich doch nicht zulassen, oder? Nichts und Niemand sollte mir im Weg stehen, mein Leben auf eine Art und Weise zu leben, die ich mir aussuchte; auch nicht mein Unterbewusstsein.
„Ist es nicht so, dass in einem Unternehmen eine Sachlage immer wieder neu betrachtet und darüber auch neu entschieden werden muss, weil sich vielleicht die Rahmenbedingungen geändert haben?“ Ich nickte. Unbedingt; wer hier nicht flexibel war, der konnte gleich einpacken. Er schaute mich mit seinen grauen Augen an, wagte ein kleines Lächeln und wartete. Nun war ich etwas irritiert, runzelte ein wenig die Stirn, hörte die Worte in mir selbst verklingen, sah wieder in seine Augen und versank in ihnen. Sie gaben mir Halt. Sie gaben mir Raum, um über mich nachzudenken. Sie gaben mir eine neue Sichtweise.
„Manchmal liegt das Wagnis darin, sich gegen die Ängste zu stellen, die davon überzeugt sind, dass es nur eine Richtung gibt, um ein Hindernis zu überspringen. Was spricht dagegen, dem Hindernis friedvoll und ruhig die Hand zu reichen und vielleicht einen kleinen Milchkaffee mit ihm zu trinken?“
Er hielt mir seinen Becher entgegen, ich lächelte und ich wusste, dass dieser Urlaubstag mir als der intensivste und wichtigste in Erinnerung bleiben würde, denn heute wagte ich einen neuen Weg. Heute genoss ich mit einem Fernglas die Aussicht und freute mich an einer Begleitung, die mit mir einen wichtigen Moment in meinem Leben teilte.
_________