Ich war viel zu früh fertig umgezogen, die Matten lagen bereits und es waren noch zwanzig Minuten Zeit, bis das Training beginnen würde. Eigentlich konnte ich mich in eine Ecke des Raumes zurückziehen und ein wenig zur Ruhe kommen, aber der Blick aus dem Fenster lenkte mich ab. So stand ich wieder auf, legte meine Stirn an die Scheibe und betrachtete das Schneetreiben in der dunklen Nacht. Jede Jahreszeit hatte ihre Berechtigung, doch in meinen Augen konnte sich der Winter gern etwas mehr zurückziehen und woanders spielen gehen. Ich musste zugeben: Schneeflocken besaßen etwas Meditatives.
Mein Atem wurde immer langsamer und tiefer, so dass sich meine Gedanken bedächtiger durch den Sinn tummelten und etwas Schönes ins Auge fassten. Ich dachte an den kommenden Sommer, ich dachte an Geselligkeit und ich dachte an Aikido:
Seit Wochen bereiteten wir uns auf diesen Tag vor: Sommersonnenwende! Wir alle bangten um das Wetter, waren aber wild entschlossen, diesen Kampf mit dem Nicht-Beeinflussbaren zu gewinnen. Zum Glück kurbelte sich das Barometer in unbekannte Höhen, die Sonne gab ihr Bestes und der Krankenstand lag bei Null. Perfekt! Aufregung surrte durch die Luft. Überall wuselten Aikidoka herum und brachten Bänke, Tische und Matten nach draußen zum Fußballfeld, das heute einmal umfunktioniert werden sollte. Gelächter und Rufe erklangen aus jeder Ecke, denn es gab noch viel zu tun. Wir bauten eine Aikido-Ecke für den frühen Abend auf, wir dekorierten eine Party-Ecke mit Feuerkörben und Buffet für die Nacht und wir arrangierten eine bequeme Schlafecke in der Halle für den frühen Morgen. Noch schien sich das Durcheinander nicht auflösen zu wollen: Bokken-Taschen, Schlafsäcke und Rucksäcke standen kunterbunt mit mitgebrachten Salaten, Broten und Getränken herum. Nichtsdestotrotz zeigte die Erfahrung der letzten Jahre, dass Punkt acht Uhr abends die perfekte Ordnung vollbracht sein würde, egal, wann wir anfingen.
Unser Trainer begab sich auf die Mattenfläche. Die Stimmen wurden immer leiser. Schnell hasteten noch die letzten aus der Halle heraus und schließlich knieten wir am Rand der Trainingsfläche und warteten auf sein Zeichen. Rechts von jedem Aikidoka lag ein Bokken. Meine Hand strich über das glatte Eichenholz; wie viele Stunden hatten wir in den letzten Wochen an den Katas gearbeitet! Festgelegte Bewegungsbilder mit dem Bokken konnten wir vermutlich mit verbundenen Augen durchführen. Heute gab es etwas, was durch Zufall aus einer Idee heraus entstand: Es existieren mehrere offizielle Bokken-Kata, die verschiedene Angriffe beinhalteten; die Reaktion des Angegriffenen darauf war ebenso vorgegeben. Ein gerader Schlag musste mit ganz bestimmten Möglichkeiten pariert werden, der schräge Schlag ebenso usw. Der Gedanke war nun, diese verschiedenen Katas zu mischen. Jeder Angreifer entschied selbst, wie er auf seinen Gegenüber zukam, doch die Reaktion war vorgegeben. Das Ergebnis war ein fließender Kampf, der die Gefahren durch die begrenzten Möglichkeiten eindämmen sollte, so dass lediglich die Freude an der Bewegung und dem Miteinander blieb. Vielleicht war es ein wenig mit einem Schachbrett-Spiel vergleichbar: die Figuren konnten sich nur in einem bestimmten Rahmen bewegen, doch der Impuls des setzenden Spielers war frei.
Bokkenarbeit ist stark von Konzentration, Fokus und Aufmerksamkeit geprägt, so beschränkte sich dieser Teil des Abends nur auf knapp zwei Stunden. Danach war kein Gi mehr trocken, unzählige Liter Wasser waren getrunken und alle freuten sich auf das bereits wartende Buffet und die in Eiswasser kalt gestellten Elektrolyte. Während die Duschen liefen, spielte die Musikanlage die ersten Sommerhits. Die Wärme des Tages ließ mit den kommenden Abendstunden etwas nach und als die Fledermäuse ihre Runden zogen, brannte das Holz in den drei aufgestellten Feuerkörben, die sich in der Mitte der Sitzplätze befanden. So verbrachten wir den längsten Teil der Nacht mit vielen Gesprächen, Lachen und Essen. Die ersten Sterne bewunderten wir gemeinsam, denn alle wollten bleiben, um innerhalb unserer Gruppe diese besondere Nacht zu verbringen…
„Stine, kommst du auch?“ Eine Hand berührte mich an der Schulter. Draußen nahm das Schneetreiben seinen Lauf und die ersten Aikidoka saßen bereits auf der Matte. Lächelnd und noch ein wenig benommen löste ich mich von meinem Traum kommender Zeiten. Eines wusste ich: Visionen sind der letzte Schritt vor dem Handeln zu einer Zukunft, die wir uns wünschen.
Macht ihr mit, Kaki?
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Sehr schöne Geschichte. Danke.
Konnte drin eintauchen.
Dein vorletzter Satz, mit der Vision als letzter Schritt vor dem Handeln, hat mir besonders gut gefallen. Wenn wir an dem Punkt stehen bleiben, bleibt es immer eine Vision, wenn wir diesen entscheidenden Schritt nach vorne gehen, treten wir in eine Zukunft ein, die wir uns selbst vorgestellt haben. … Wirklich sehr schön.
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Das ist das Aufregende an Visionen, ich sehe es genauso wie Du, es ist unser Tor in eine wunderbare Zukunft:)
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Ich hatte das Gefühl in dem Raum und der Gemeinschaft dabei zu sein. Fühlte mich hineingezogen in diese Atmosphäre und sah förmlich die Bewegungen der Aikidoka mit dem Bokken. (Selber 0 Ahnung davon!) Sehr schön!
Lieben Gruß Angelika
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Man kann bei uns immer zuschauen oder besser noch, gleich selbst mitmachen! Die Türen sind immer offen! Ich freue mich, dass es Dir gefällt!:)
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