Jeder hat seine Lieblingsplätze, die helfen, die Alltagssorgen von jetzt auf gleich einfach fallen zu lassen. Ein Hinschauen, ein Einfühlen, ein Wohlempfinden und all das Schwere verlässt die Gedanken, da es hier keinen Raum findet. Vielleicht sind es die Orte, die höhere Energien besitzen, die allein schon von Natur aus magnetische Linien sich kreuzen lassen oder aufgrund des übergroßen Lichteinfalls das ganze Jahr hindurch mit dem Übervollen der Sonne beschenkt werden. Es sind die Orte, die uns entspannen lassen, so dass der Glaube an das Wunderbare immer wieder neu aufblüht. An solchen Orten kann das Fantastische geschehen und wir wundern uns nicht einmal. Es ist ein Ort des Verwunschenen:
Eigentlich wollte ich mich nur gerade hinsetzen. Heute passte weder der abgeschnittene Baumstamm, noch das Wurzelwerk davor. Egal, wie ich mein Kissen legte, ständig fühlte ich irgendwelche Steine, Erhebungen oder eine Schiefe, die ich heute einfach nicht ertrug. Selbst die Sonne schien sich heute nicht richtig zeigen zu wollen. Seufzend schüttelte ich an meiner Thermoskanne. Na klasse, selbst hier gab es Ebbe. So lange saß ich doch noch gar nicht hier! Naja, meinem Zeitgefühl durfte ich so oder so nicht vertrauen: Manchmal verflogen Stunden und ich wunderte mich über einen Sonnenuntergang und manchmal zogen sich Minuten, wenn ich auf etwas wartete.
Kurz entschlossen stopfte ich meine Sachen in meinen Rucksack, wunderte mich über mein unruhiges Verhalten und beschloss, den Heimweg zu beginnen. Mein rot-weißes Fahrrad stand 20 Meter weiter am Hauptweg, den ich von hier aus gut sehen konnte. Ich war jedes Mal zu faul, das Rad über Büsche und Wurzeln zu heben.
Gerade als ich mich auf meinen Sattel schwang, hörte ich ein lautes Knarzen, Reißen, Schleifen und schließlich spürte ich den wuchtvollen Aufprall unter meinen Füßen. Fassungslos starrte ich auf meinen Lieblingsplatz. Wo eben noch unschuldiger Farn seine neuen Röllchen ausbog, wo eben noch Moos diese vielen kleinen Minilandschaften zeigte und wo eben noch das von mir niedergedrückte Kraut zu sehen war, lag ein riesiger Haupt-Ast, dessen Zweige durch den Aufprall immer noch schwangen, als hätten sie Musik im Ohr. Mit offenem Mund starrte ich diesen riesigen Arm der alten Buche an, die ich für ihre ausdrucksstarken Verwachsungen so sehr liebte. Sie stand fünf Schritte von meinem Sitzplatz entfernt und bot jahrein und jahraus unzähligen Eichhörnchen Unterschlupf, die ich von meinem Platz aus immer begeistert beobachtete und ab und zu mit Walnüssen verwöhnte.
Es dauerte mehrere Augenblicke, bevor ich die Situation als solche begriff. Langsam legte sich der Schreck über all meine Glieder, lähmte den eben noch verfügbaren Schwung und ließ mein Herz rasen. Schwer atmend schloss ich meine Augen, um die abrupte Veränderung abflachen zu lassen und sah mich trotzdem unbeweglich am Weg stehen, mit der Hand vor dem Mund.
Unglaublich! Vor fünf Minuten saß ich noch an genau dieser Stelle! Wenn ich nicht auf mich selbst gehört hätte, dann läge ich jetzt ziemlich tot unter den Ästen. Krass! Jetzt langsam. Ich bemerkte, dass meine Hände zitterten. Mit weichen Knien schob ich mein Fahrrad zum Ausgang des Waldes, schimpfte mit mir selbst über meinen körperlichen Zustand und war nur noch dankbar. Ich wünschte mir schon immer ein schnelles Davonscheiden aus dem Leben, doch jetzt? Jetzt, wo der Frühling gerade kam? Jetzt, wo ich all die aufregenden Dinge in meinem Leben genoss? Jetzt, einfach mittendrin? Ich hielt nicht viel davon, ständig über ein mögliches Ende nachzudenken. Das kommt von ganz allein, ohne ständiges Fokussieren, doch dieser Gedanke zwang sich gerade in diesem Moment auf. Ich blieb stehen, ich lachte, ich lachte all meine Anspannung heraus, ich lachte und schaute mich um. Ich lebte! Am Rande des Waldes begannen die Felder der Bauern; aneinander gereiht zogen sie sich bis zum Horizont. Ich ließ mein Fahrrad an die Seite fallen und lief auf das erste Feld, das bereits vom Bauern tief umgepflügt worden war. Die dunkle Erde lag in Rillen gezogen in schweren großen Klumpen und wartete auf die Saat, die vermutlich in den nächsten Tagen ausgebracht werden würde. Ich lachte immer noch und ließ mich einfach auf meine Knie fallen und steckte beide Hände in eine gerade vor mir liegende Erdsode hinein. Die Erde war noch kalt, steinig, krümelig, doch auch reichhaltig, satt und ein wenig feucht. So manch einer rümpfte die Nase, wenn er Mutterboden berühren sollte, doch für mich symbolisierte diese dunkle Erde Leben, Wachstum, Freude und Erfüllung. Im Herbst konnte ich stundenlang durch die Kornfelder ziehen, die Ähren berühren und mich an ihrer Schönheit erfreuen.
„Sag mal, du hast kein Problem, oder?“
Überrascht drehte ich mich um, verlor dabei das Gleichgewicht und lag schließlich ungewollt mit dem Rücken in einer Rille. Ein Schrei entfuhr mir. Da war wohl noch ein wenig Anspannung in meinem Sein. Keine fünf Schritte von mir entfernt stand ein Mann in Jeans und Pulli mit hochgeschobenen Ärmeln. Sein blondes Haar war kurz und ein wenig lockig. Sein Gesicht zeigte einen besorgten Ausdruck und seine dunklen Augen fixierten mich, als sei ich ein unbekanntes Insekt, das noch nicht glasklar einer Kategorie zuzuordnen war. Ich wollte etwas sagen, bekam aber nur ein unverständliches Krächzen heraus, da ich gleichzeitig versuchte, tief Luft zu holen und zu reden. Reden war mir nicht möglich, doch mein Hirn war immerhin in der Lage mein Gegenüber als recht gutaussehend einzuschätzen, meine eigene Situation als ein wenig peinlich zu definieren und vor allem darüber nachzudenken, wie lange ich wohl Objekt seiner Betrachtung gewesen war.
„Es gibt einen Grund, warum ich dir die Hand hin halte…“
Mit meinen Gedanken dermaßen beschäftigt, bemerkte ich nicht einmal seine nett gemeinte Geste. Ich lief rot an und ergriff die mir dargebotene Hand. Er zog mich mit einem Ruck hoch und lächelte ein wenig verlegen.
„Kannst‘e auch reden?“
Nun grinste dieses ausgesprochen sympathische Exemplar von Mann: „Ich kam grad von der hinteren Weide“, fügte er erklärend hinzu, „ich hab dort die Jungbullen stehen; da muss man ab und zu schauen. Ich sah das Fahrrad am Rand des Weges liegen und machte mir doch ein wenig Sorgen, bis ich dich dann hier die Erde küssen sah.“
Jetzt musste ich lachen und all das Unangenehme fiel von mir ab. Doch ich bemerkte, dass er immer noch meine Hand hielt. Der Einfachheit halber schüttelte ich diese dann zum Gruß und stellte mich vor.
„Ich möchte ja nicht neugierig sein, doch gibt es einen Grund für dies…“
Er wusste nicht wie er es umschreiben sollte und zeigte nur auf das Feld und meine Wenigkeit. Dann wartete er auf eine Antwort und betrachtete mein Gesicht: „Ähm, darf ich?“ Er zog einen Ärmel seines Pullovers wieder herunter, hielt ihn mit der Hand fest und rubbelte damit über mein Gesicht. Die andere Hand hielt meinen Nacken, damit ich stillhielt. Überrascht ließ ich es geschehen. Ich bemerkte seine großen breiten Hände, die sich ein wenig rau anfühlten. Sie waren Arbeit gewohnt. Vorsichtig entfernte er Spuren des Ackers aus meinem Gesicht. Nickend bedankte ich mich und trat einen Schritt zurück. Schließlich kannte ich diesen Mann überhaupt nicht, auch wenn er so tat, als seien wir bereits ewige Freunde.
In kurzen Worten erklärte ich ihm, was geschehen war. Bestürzt runzelte er die Stirn. „Mein Güte, du musst total durcheinander sein. Möchtest du einen Kaffee? Ich wollt grad ins Haus und eine kleine Pause machen.“
Na klar! Ich ging doch nicht zu einem Wildfremden ins Haus! Er schaute mich fragend an, tippte sich mit den Fingerspitzen an die Stirn und meinte: „Entschuldige bitte. Das hörte sich jetzt verfänglich an. Was hältst du davon, wenn wir uns dort drüben“, er zeigte zu einer kleinen Anhöhe mit einem einzelnen Baum, „in zehn Minuten treffen? Ich hol den Kaffee von zu Hause und dann trinken wir ihn gemeinsam?“ Intuitiv wusste ich, dass er sich nichts bei diesem Angebot dachte, doch irgendwie zögerte ich. Jetzt lächelte mein Gegenüber wieder: „Pass auf, du überlegst einen Moment, ob du es überhaupt möchtest und entweder bist du in zehn Minuten noch da oder ich genieße meine Pause einfach auf meinem Lieblingsplatz, der hoffentlich nicht so gefährlich ist wie deiner.“
Ich ging zu meinem Fahrrad und wartete bis er nicht mehr zu sehen war. Ich setzte mich dann auf den Sattel, wollte gerade durchtreten, als mich doch irgendetwas davon abhielt. Seufzend schimpfte ich schon wieder mit mir. Wenn ich jetzt fuhr, würde ich heute Abend nicht einschlafen können, da mich bestimmt tausend Fragen quälen würden. Neugier ist manchmal ein Geschenk, doch für mich stellte diese Charaktereigenschaft viel zu oft eine riesige Herausforderung dar. Nun ja, ich konnte mir ja den Platz anschauen. Die Anhöhe war ein Hügelgrab mit einer alten Eiche und einigen großen Baumscheiben, die wohl als Sitzplatz dienten. Von hier aus konnte ich alle Felder übersehen und sogar das Ende des kleinen Wäldchens erblicken, von dem ich vorhin kam. Der Ausblick war wirklich schön. Ich fühlte mich hier wohl. Da sah ich ihn bereits wieder den Weg entlang kommen. Er musste sich beeilt haben. Also blieb ich.
Jetzt saß ich mit einem heißen Topf Milchkaffee in der Hand einem fremden Mann gegenüber und starrte mit ihm gemeinsam zum Horizont. Wir konnten gemeinsam schweigen. Das war schön.
„Ich habe dich belogen.“
Überrascht schaute ich mein Gegenüber an, von dem ich mittlerweile wusste, dass er Jorik hieß.
„Ich glaube, ich muss dir etwas erklären.“
Es gibt ein paar Wörter, die meinen Fluchtreflex ein wenig ankurbelten. „Angelogen“ und „erklären“ gehörten eindeutig dazu. Ich setzte mich gerade auf und starrte ihn an. Er schien es nicht einmal zu bemerken, denn sein Blick blieb auf den Horizont gerichtet.
„Du weißt, dies hier ist mein Lieblingsplatz. Wie du siehst, kann man von hier aus in alle Richtungen mein Land einsehen.“
„Dein Land?“ Ich lächelte, das wäre ganz schön viel. Jorik drehte seinen Kopf zu mir und schaute mich ernsthaft an.
„Ja, mein Land. Auch wenn ich nicht wie ein Gutsbesitzer aussehe, denn von dem Verkleiden halte ich überhaupt nichts, so bin ich es trotzdem. Selbst wenn es mir nicht gehören würde, wäre es mein Land. Denn hier fühle ich mich wohl, das hier ist meine Heimat, hier bin ich geboren.“
Er hielt immer noch seinen Kaffeebecher in beiden Händen und schaute mich an. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich weiß ganz genau, dass du es auch so siehst.“ Er schaute mich immer noch an und griff mit der linken Hand in mein Haar, um einen kleinen Erdklumpen herauszuziehen. „Mehr Beweis braucht man nicht, oder?“
Ich wartete, dass er mit seinen Worten fortfuhr. „Ich sehe dich seit dem letzten Sommer immer wieder deinen Lieblingsplatz aufsuchen, ich verstand so gut, was du suchtest. Ich mochte dich dort an deinem Ort nicht stören. Doch heute… heute hätte ich dich beinahe verloren, heute wurde mir klar, dass ich dich schon längst hätte ansprechen sollen. Zeit ist nichts, was sich der Mensch erkaufen kann, indem er brav abwartet, ob das Schicksal uns irgendwann einen Wunsch erfüllt. Heute weiß ich, dass nur mein eigenes Handeln meinem Leben die Richtung geben kann, die ich mir wünsche. Deshalb sitzt du jetzt hier und trinkst mit mir Kaffee.“ Zufrieden nickte er und schaute wieder auf den Horizont. Mein Herz schlug laut, als stimme es ihm zu.
Eine sehr schöne Geschichte die mich motiviert, mir wieder einen Lieblingsplatz, bzw. Kraftplatz in der Natur zu suchen 😊
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Wie schön 🙂 Du hast recht, Lieblingsplätze sind Kraftplätze, man kann nie genug davon haben 🙂
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Habe Tränen in den Augen … Wunderschöne Geschichte. Danke sehr!
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Zwischen Märchen, Wunschtraum und Realität. Auf alle Fälle suche ich mir schon mal einen Lieblingsplatz außerhalb meines Gartens! Wer kann schon sagen, welche Folgen es haben kann?
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Wie schön! Bin ganz Deiner Meinung!:)
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