Ich schaute auf das Außen-Thermometer: Schon der zweite Tag mit gefühlt hohen Temperaturen! Er wird aufwachen! Die Sonne kroch bereits über den Horizont und färbte die einzelnen kleinen Wölkchen in ein Baby-Rosa. Zudem war es Wochenende und niemand befand sich zu dieser frühen Stunde auf der Straße. Perfekt! Hatte ich die Rosenschere dabei? Check! Hatte ich mein Sitzkissen und Kaffee? Check! Hatte ich ein gutes Buch? Check! Oder? Brauchte ich es wirklich? Der Winter war lang und es gab viel zu erzählen. Manchmal glich er nach seinem Schlaf einem hungrigen Bären, der nicht genug bekommen konnte. Tausend Fragen überfielen ihn, tausend Aspekte schienen sich während der Ruhephase neu entwickelt zu haben und bestimmt tausend Male musste ich ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte.
Gut zehn Kilometer fuhr ich mit meinem rot-weißen Fahrrad durch die Landschaft, bevor auf dem Weg nur noch ein Fortkommen zu Fuß möglich war. Schleswig-Holstein hatte seine Tiefen, auch wenn das Land dermaßen flach sein konnte, dass es einer Bowling-Bahn glich. Nach einer halben Stunde begann das vergessene Land. Obwohl ich seit unzähligen Jahren diesen Weg mindestens zweimal in der Woche fuhr (außer natürlich zur Winterzeit), war mir bis heute nicht klar, wem eigentlich dieses urwüchsige Stück Erde gehörte. Auf der Fläche von mindestens vier großen Fußballfeldern ließ der Besitzer Pflanzen und Tiere in Ruhe ihre Tage verbringen: kein Herausreißen von unliebsamen Gewächsen, kein Fällen von Bäumen, keine Jagd auf unschuldige Tiere und vor allem schien niemand den Zugang dazu gefunden zu haben; nur meine Wenigkeit und ich verriet es nicht.
Tief seufzend stand ich vor den riesigen Brombeerranken. Meine Güte, der Winter schien sie überhaupt nicht vom Wachsen abgehalten zu haben! Langsam begann ich mir tief am Boden einen Durchschlupf freizuschneiden. Der Ort sollte geheim bleiben und ich wollte auf keinen Fall durch eigenes Verschulden irgendjemanden hierhin einladen. Die Stränge zerschnitten mir die Hände, doch ich merkte es nicht. Meinen Rucksack musste ich vom Rücken nehmen, damit ich hindurch passte, so zog ich ihn Stück für Stück hinter mir her. Ich hätte meinen können, seit Jahren den Tunnel nicht benutzt zu haben, so dicht umschlangen die Brombeerranken das Dickicht. Geschafft! Einen kleinen Moment nahm ich mir die Zeit, die abgeschnittenen Enden wieder vor den Eingang zu hängen, damit der Durchgang nicht offensichtlich zu erkennen war.
Wie sehr hatte ich diesen Ort vermisst! Begeistert atmete ich tief ein und schloss die Augen. Die Sonne schien durch die Bäume hindurch, da das Blattwerk erst in kleinen Ansätzen zu sehen war. Wärme breitete sich auf meinem Gesicht aus. Die bestimmt drei Meter hohen Büsche mit den unendlich vielen Brombeerranken schluckten fast alle Geräusche von außerhalb. Irgendwo in der Ferne rief ein Adler, irgendwo in der Ferne standen Kühe auf der Weide und irgendwo in der Ferne gab es andere Menschen, doch hier nicht.
Die Geräusche von diesem Ort rieselten durch mein Bewusstsein. Ich hörte die ersten Vögel ihre Runden ziehen und um Nistplätze streiten, ich hörte einen Marder zu meinen Füßen. Ich kannte ihn, er hatte ein verletztes Auge. Bewegungslos stand ich lächelnd da. Es war das Tapsen von Mehreren zu hören! Ich blinzelte mit einem Auge auf den Boden. Ein zweiter Marder kam hinter meinem alten Freund hervorgehuscht. Du hast eine Partnerin! Überrascht öffnete ich noch mein zweites Auge, bewegte meinen Körper dennoch nicht. Freund hin oder her, Marder sind scheu, auch wenn sie einen akzeptieren und manchmal länger als notwendig begutachten. Ich wusste ganz genau, dass er auf ein Mitbringsel hoffte. Selbstverständlich hatte ich etwas Trockenfleisch in meiner seitlichen Hosentasche dabei. Das Fell seiner Freundin war gut um einen Ton heller, sie passten wunderbar zusammen. Ich lächelte, bewegte mich nun doch und nahm vorsichtig das Fleisch aus meiner Tasche, um es schließlich in die Büsche zu werfen.
Schließlich nahm ich meinen Rucksack und machte mich auf den Weg. Fast in der Mitte des Areals gab es eine größere Lichtung, die nun sonnenüberflutet vor mir lag. Das langsam immer grüner werdende Gras hielt noch die Tautropfen des Morgens zwischen den Halmen und glitzerte dadurch wie in einem brillantenen Funkenmeer, das ihn umfloss, ihn, der mein Herz über all die Jahre besaß. Er kannte all meine Freuden und Leiden, er kannte die Welt mit all ihren Verrücktheiten, er kannte die Tiefen der Erde und die Stimmen, die auf ihr laut wurden. Er kannte mich bis in die letzte Faser meines Seins und manchmal hörte ich auch im täglichen Allerlei seine Stimme, denn er war mit der Welt verbunden und somit auch mit mir.
Ohne es zu bemerken, wurden meine Schritte immer schneller, bis ich schließlich fast außer Atem vor ihm stand. Stumm verharrte ich und schaute an seinem mächtigen Äußeren hoch bis zu seinen Spitzen. Wie jedes Jahr konnte ich meine Aufregung kaum verstecken. Er würde mich später dafür auslachen und sein innerstes Knarzen dafür laut werden lassen. Es handelte sich um ein Geräusch, das ich niemals zuvor hörte und es war immer ein Geschenk für mich, denn er sandte damit seine Energie in die Welt. Ich war dann nah bei ihm und fühlte mich jedes Mal großartig erfüllt.
Doch nun wollte ich mich konzentrieren. Jedes Frühjahr musste ich es neu erlernen, den Zugang zu ihm zu finden. Es ist wohl dem Menschen nicht wirklich eigen, doch wir konnten es entwickeln, wenn wir uns Mühe gaben. Ich warf den Rucksack an die Seite und lehnte mich mit meiner Stirn und meinen Handinnenflächen an seine harte Rinde. Gänsehaut durchfloss mich, der Kontakt war sofort da. Ich schloss meine Augen, hörte das innere Rauschen. Er war wach! Ich freute mich so sehr! Ich konnte kaum ein Lachen unterdrücken, doch wenn ich nicht still war, dann könnte ich ihn nicht hören. Er zog das erste Wasser aus dem Erdreich. Entschlossen löste ich mich, ergriff meinen Rucksack und suchte meine provisorische Leiter, die mir helfen würde, die ersten zwei Meter ohne Anstrengung zum untersten Ast erklimmen zu können. Ich hatte sie unter Tannengrün an die Seite gelegt. Alles war noch da. Also kletterte ich. In etwa fünf Metern Höhe befand sich eine perfekte Astgabelung, die mir einen guten Sitzplatz bot. Das Seil war auch noch da! Prüfend zog ich am doppelten Strang, den ich erst im letzten Jahr neu um den Stamm gebunden hatte. Um meinen Bauch hing eine Klettersicherung, die ich vor einigen Jahren in einem Outdoorladen besorgen konnte und verhakte sie mit dem Seil. Ich setzte mich auf mein Kissen und stellte den Kontakt wieder her. Eine Sicherung war wichtig, manchmal fühlte ich mich so sehr wohl, dass ich in seinen Armen einschlief und dann waren fünf Meter wirklich tief.
Meine Handinnenflächen brannten, meine Fußsohlen auch. Ich zog meine Schuhe und Strümpfe aus, damit ich es aushalten konnte. Die Energie nahm von Sekunde zu Sekunde zu. Warum wusste niemand, dass unsere Wälder die Spender von Leben sind, uns all die Energie geben, die wir manchmal nur besonderen Momenten zuschreiben. Doch es waren sie, sie, die vor uns da waren und mit Sicherheit uns noch überleben werden. Es wurde Zeit es zu sehen und ich wollte meinen Teil dazu beitragen, indem ich ihm Jahr für Jahr zuhörte.
Er ruhte einen kleinen Moment, das Rauschen ließ etwas nach. Ich wusste, dass diese Jahreszeit ihm unheimlich viel Kraft abverlangte, doch wenn er es vollbracht hatte, würde er umso gewaltiger von hier aus seinen Beitrag für die Welt leisten, die ihn dankenswerterweise schon so lange unbesehen in Ruhe ließ. Manchmal vermutete ich in ihm die Eigenschaften eines 007, der genau um seine Wirkung wusste und es heimlich genoss. Ein Knarzen kam als Antwort, weil das Bild bei ihm ankam. Die Energie kam sofort und füllte meine Muskeln mit Kraft und ließ meine Gedanken glasklar werden. Dankend kratzte ich mit meinen Fingern zwischen den Rillen seiner Rinde. Ich wusste er mochte es, da es ihn an die Zeit mit den herumwuselnden roten Eichhörnchen erinnerte, die die Eicheln irgendwo verstecken wollten und ihn damit kitzelten. Er liebte sie, auch wenn sie seine Kinder nahmen.
Vor einigen Jahren sprachen wir darüber. Ich wusste nicht, was ich zum jährlichen Verschwinden seiner Kinder überhaupt sagen sollte. Meine damaligen Gedankenbilder waren so traurig, dass er krampfhaft versuchte, zwei seiner Äste zu bewegen, um mich zu umarmen. Ich war im ersten Moment regelrecht erschrocken. Er hielt inne, um schließlich so lange zu knarzen und mir damit Energie zu senden, bis ich ihn bat aufzuhören. Ich war kurz davor, meinen Karabinerhaken zu lösen, damit ich die mir innerlich wachsenden Flügel ausprobieren konnte. So sahen meine geschlossenen Augen sein Lächeln und seine Liebe für uns Menschen.
„Weißt du es denn nicht?“
Irritiert sandte ich ihm ein riesiges Fragezeichen.
„Was bringt man euch Menschen überhaupt bei?“
Das Rascheln seiner Krone sprach Bände.
„Weißt du denn nicht, dass ein Funke niemals stirbt? Jedes meiner Kinder erhält ihn. Viele von ihnen können nicht einmal Fuß für ihre Wurzeln fassen oder enden als Futter für die Wildschweine, doch das ist nicht schlimm. Sie verändern nur ihr Sein. Wenn der uns gegebene Rahmen nicht mehr hält, weil die Zeit gekommen ist – sei es als Eichel, sei es als kleiner Keimling, sei es als junger Baum oder bereits stattlicher Erwachsener – wenn die Zeit gekommen ist, dann geben wir nur diesen Rahmen auf, finden wieder zu unserem Ursprungsort und werden zu gegebener Zeit wieder erneut gesandt. Irgendwann haben wir die richtige Zeit gewählt und den richtigen Ort gefunden, um schließlich all die Liebe erfahren zu dürfen, die IMMER für uns bereitgehalten wird. Manchmal brauchen wir nur ein wenig Erfahrung, um dorthin zu gelangen.“
Stumm hörte ich ihm zu. Es fühlte sich richtig an. Meine Tränen liefen mir über die Wangen und ich konnte meine Augen nicht öffnen, weil mein Herz brannte. Ich verzweifelte manchmal an dem Werden, Sein und Gehen. Doch ihm glaubte ich sofort. Er war schon da gewesen, als es mich hier noch nicht gab. Er war hier und wusste wahrscheinlich schon zu meiner Geburt, dass ich eines Tages kommen und ihn mit all meinen Sinnen lieben würde.
So schlief ich in seinen Armen, bis mich die Geräusche des Frühlings weckten und meine Tränen in seiner Rinde bereits versunken waren. Leben war immer genau richtig und wenn wir all die uns geschenkten Energien aufnahmen, dann konnten wir auch ERKENNEN:
Aus dem „Nebel“, der hinter uns liegt, wird immer das „lebeN“, das vor uns liegt.
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So sende ich liebe Grüße an socopuk und mynewperspectivesite, die mir mit ihren Kommentaren zu „Katharsis“ die Idee zu dieser Geschichte schenkten. Danke 🙂