Der Staub wirbelte durch die hereinfallenden Sonnenstrahlen. Zwei kleine Fenster ermöglichten es dem Licht, jede Tasche, jeden Karton, jedes urtümliche Ding etwas genauer zu betrachten. Als Staub-Allergiker sah ich den Feind vor meiner Nase tanzen, doch die Rechnung bekäme ich so oder so erst einige Stunden nach meinem Besuch auf diesem verwunschenen Dachboden. Eigentlich sollte jede Kleinigkeit im aufgestellten Container vor der Haustür landen, doch mein Bitten und Betteln wenigstens einen Tag mit der Durchsicht der alten Dinge zu erhalten, trug Früchte. Das Haus meiner Großeltern sollte dem Abrissunternehmen aus der fernen Stadt zum Opfer fallen. Die Mauern beherbergten den Schwamm, die Elektroleitungen ähnelten eher einem Abenteuerspielplatz für ganz Gewagte und jegliches Holzinterieur schimmelte vor sich hin. Da war nichts mehr zu retten, jedenfalls nicht am Gemäuer.
So saß ich auf einer umgedrehten Kiste bewaffnet mit einer Thermoskanne Milch-Kaffee und guter Laune. Mein Blick ging durch das Fenster hin zum Nachbargarten. Ich genoss die Tatsache, bestimmt richtig, richtig viele schöne spannende Dinge erforschen zu dürfen. Kleidersäcke, Müllsäcke und Säcke für noch Gutes zum Spenden lagen bereits einsatzbereit am Fuße der Einstiegsklappe zum Dachboden – nicht zu vergessen eine schöne Holzschatulle, worin jegliche Art von Bildern und kleiner Nippes landen sollte. Ich liebte Andenkenkistchen, die immer wieder hervorgeholt werden können, wenn die Sehnsucht zu einem geliebten Menschen groß ist; all diese kleinen Dinge lassen dann die Anwesenheit des Anderen ein wenig näher rücken. Alles war somit bereit für ein Tagewerk.
Zwei Stunden lang kämpfte ich mich durch offensichtlichen Müll; all diese Dinge kannte ich von meinem eigenen Dachboden: zu gut, um entsorgt zu werden, doch im Grunde auch nicht gut genug, um eine Adelung als Nutzungsgegenstand zu erhalten. So kam dann doch die verdiente Kaffeepause mit dem ersten Blick in einen Karton. Jetzt fingen die spannenden Momente an. Hmmm, naja, geht so. Wer kommt auf die Idee, alte Tischdecken auf dem Boden zu horten? Sie rochen nicht nur schlimm, sondern sahen auch so aus: Stockflecken durchzogen den gesamten Inhalt, der sich selbst im Prozess der Auflösung befand, also Müll. Nächster. Auch nicht besser: Kontoauszüge, Versicherungsunterlagen, Telefonrechnungen und Benutzer-Handbücher für alle möglichen Haushaltsgeräte. Hier war jemand Fan von der 10-Jahre-Aufbewahrungsregel – war wohl zwischendrin verstorben. Langsam fühlte ich mich müde. Aufregend waren andere Dinge. Ich wünschte mir eigentlich altes Spielzeug, Apparaturen mit geheimnisvollen Klappen und Schrauben, deren Sinn ich erst nach vielen Stunden ergründet haben würde. Ich wünschte mir Schwarz-weiß-Bilder mit fremden Namen und Orten. Ja, ich wünschte mir sogar Mitbringsel aus Afrika, Asien oder Kapstadt, die ich vielleicht in meine eigenen vier Wände mitnehmen könnte, um dort den Hauch der großen weiten Welt ein wenig wehen zu lassen. Wenn es so weiter ging, würde ich vermutlich meinen Elan verlieren und tatsächlich die Dinge aus dem Fenster werfen, damit sie im großen Container landen konnten. Echt schade. Lustlos schob ich Dreck vom letzten Karton aus der einen Ecke vom Deckel. Schon wieder irgendwelche Decken! Ordentlich gestapelt kamen mehrere Päckchen mit Schleifen und in gutem Tuch verpackt zum Vorschein. Überrascht hob ich meine Augenbrauen. Sorgsam eingehüllte Korrespondenz! So etwas war nach meinem Geschmack! Glücklich seufzend nahm ich meine Sitzkiste ans Fenster, das zum Garten blicken ließ, schenkte erneut etwas Kaffee nach und freute mich über den ersten richtig schönen Fund des Tages:
Mit dem Blick auf die geschwungene Handschrift lächelte ich und dankte meiner Großmutter für all die vielen Stunden, in denen sie sich die Zeit nahm, das Sütterlin mit mir zu entziffern. Opa sagte immer, das wäre der Geheimcode der Piraten gewesen, was meinen kindlichen Eifer natürlich noch mehr in Schwung brachte.
Ich saß im Sonnenlicht, Staub umtanzte immer noch unermüdlich mein Gesicht und ich betrachtete das erste gefaltete feine Stück Papier. Auch hier zogen sich Spuren der Zeit durch die Buchstaben, doch zum Glück konnte ich mit Geduld alles entziffern. Neugierig las ich die ersten Worte, die mit einem Datum am Rand verrieten, dass bereits 150 Jahre zwischen dem Auftragen der Tinte und dem heutigen Lesen lagen:
An mein liebes Weibchen Madame Schneider,
Auflachend amüsierte ich mich über den Begriff „Weibchen“. Würde ein Mann heutzutage seine Freundin so benennen, so hätte er schneller als er reagieren könnte, einen Besenstiel zwischen den Zähnen, andererseits nannte er sie „Madame“; so schien doch die Bedeutung von „Weibchen“ mit den Jahren eine andere geworden zu sein.
zwei starke Bande sind es, die uns miteinander verbinden: die Liebe und die Treue.
Ein Liebesbrief! Wie schön! „Starke Bande“: Welch schöne Formulierung, die vor meinem Auge die Hände eines verliebten Pärchens mit einem seidenen Band umwickelte, um ihre Verbundenheit zu symbolisieren. So etwas passierte nur in schönen alten Spielfilmen, die das Vermitteln von Romantik wirklich noch zur Kunst erhoben hatten.
Die Liebe hat Gott in deinem Herzen angezündet und dich also selbst an mich gekettet.
Wieder bildhafte Sprache! Warum spricht heute niemand mehr auf diese Art und Weise? Das war mein erster Gedanke. Dann klang das Wort „gekettet“ in mir nach. Das hörte sich eigentlich nicht wirklich romantisch an. „Anketten“ war nicht schön, weder für den Einen noch für den Anderen: Die Eine wurde in ihrer Freiheit eingeschränkt und dem Anderen wurde etwas angehängt, ob er wollte oder nicht. Das war nun mein zweiter Gedanke gewesen. Die Bedeutung von Worten sollte immer im zeitlichen Kontext bleiben und die Umstände berücksichtigen, um sie wirklich verstehen zu können. Die Frage ist nun an Sie Herr Schneider, wie viele Ebenen besitzen Ihre Worte?
Zur Treue hast du dich selbst verpflichtet durch ein heiliges Versprechen am Altar des Herrn vor seinem und seines Dieners Angesicht.
Wollte der liebe Ehegatte nun sagen, dass seine Frau für das Erstere nichts konnte und das Zweite ganz allein zu verantworten hatte? Irgendwie fehlte mir ein „wir“ oder die Begeisterung für etwas Schönes, was gemeinsam mit viel Liebe entschieden wurde oder dachte ich viel zu modern? Heute leistete ein Paar eine Unterschrift am Standesamt, bekam die Hände geschüttelt und eine Urkunde ausgehändigt, was auf keinen Fall eine Wertung darstellen sollte, doch ein „heiliges Versprechen“ ging eindeutig mehr unter die Haut.
Da du nun das letzte Band nur geknüpft hast, weil du dich durch das erste bereits mit mir verbunden wusstest, dass also das Letztere aus dem Ersten gewachsen ist, so wollte der Herr unser Gott uns Gnade geben, dir damit du die Liebe zu mir stets in deinem Herzen bewahrtest zu tragen…
Gut, das ging nicht mehr komplizierter. Als Frau des 21. Jahrhunderts stellte sich unweigerlich eine Frage ein: Was war mit Ihrer Liebe, sehr geehrter Herr Schneider? Sollten Sie sie nicht ebenfalls in Ihrem Herzen bewahren? Es hörte sich nach einem kleinen Ungleichgewicht an.
…und also das letztere Band stets daraus hervorwachse, damit dir Dasselbe eine Lust bleibe und nie eine Last werde.
Oha, eine nett verpackte Anspielung. Liebe Madame Schneider, Ihr Ehemann dachte darüber nach, ob die Treue vielleicht einmal ein Problem werden könnte. Waren Männer davor gefeit?
Mir aber damit ich alles tue was dazu beitragen kann dich glücklich zu machen und die Liebe in deinem Herzen zu pflegen also dieselbe zu erhalten, ja zu vermehren. Dies wünscht dir in aufrichtiger Liebe und Treue dein dir innigst verbundener Gatte.
Alles gut. Herr Schneider, Ihre letzten Zeilen versöhnten mich wieder. „… damit ich alles tue was dazu beitragen kann dich glücklich zu machen…“: Schmelzfaktor. Wussten die heutigen Männer eigentlich, wie machtvoll ihre Worte sein könnten?
In meiner linken Hand hielt ich meinen Becher Kaffee, in der rechten Hand hielt ich einen Brief eines Mannes aus vergangenen Tagen; nachdenklich verglich ich zwischen damals und heute. Ich mochte in keiner anderen Zeit leben. Das Heute hatte andere Probleme, doch im Miteinander hatte sich hoffentlich vieles verändert: Jeder, sei es Mann oder Frau, besaß heute die gleichen Rechte. Es waren die Rechte der freien Äußerung, der Selbstbestimmung und der freien Wahl wie oder mit wem ich meine Zeit verbringen wollte.
Genau! Seufzend faltete ich den Brief wieder zusammen. Ich hatte genug Staub eingeatmet und ich würde heute mein Recht in Anspruch nehmen, nicht nur mein Tagewerk als beendet anzusehen, sondern es ebenfalls nicht zuzulassen, dass Schätze besonderer Art verloren gingen. Diesen Dachboden betrat niemand, bevor ich nicht alles genauestens begutachtet hätte. Ich fühlte mich ein klein wenig verpflichtet, ein klein wenig angekettet durch ein Band des Mitfühlens und ich fand es nicht einmal schlimm.
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Wie schööön! So ein alter Brief ist doch ein richtiger Zeitzeuge! Ich glaube, ich muss den Inhalt meines Boden auch mal filzen! Das Bild dazu finde ich auch wunderschön.
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Danke! Sag mir Bescheid! Ich komme vorbei und helfe Dir! 🙂
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