Trotz der bereits späten Stunde schien die Hitze unerträglich zu sein, der Lärm auch. Niemand war zuhause geblieben, niemand wollte dieses Ereignis verpassen. Egal, was geschehen würde, der Verlauf des Abends und der Vollmond-Nacht würde das einzige Gesprächsthema der folgenden Tage sein. Wann immer ein guter Kampf zu erwarten war, wann immer alte Feindschaften die Emotionen aller berührte und wann immer die Liebe einer Frau sich als seidenes Tuch über die Spannung legte, dann summte dieser Ort mit einer nur Menschen möglichen Vorstellung von Leben.
Der beste Platz war direkt hinter der Steinabgrenzung für das Kampffeld. Wer hier in solchen Nächten sitzen wollte, musste bereits mehrere Stunden vorher den Platz reservieren. Die Kinder des Ortes verdienten sich als Platzhalter ein gutes Zubrot, da die Erwachsenen für solch ein Vergnügen fast alles zu bezahlen bereit waren. Jetzt waren die Kinder aus dem inneren Umkreis verschwunden. Sie standen nun bei den Fackeln, die sie hinter den Zuschauern auf hohen Stangen rund um sie herum in den dafür vorgesehenen Eisenhalterungen gesteckt hatten und beaufsichtigten. So umschlossen unzählige Fackellichter die Versammelten und gaben dem Ort mit Einbruch der Dunkelheit nicht nur Licht, sondern auch eine eigene Stimmung des Feierlichen und Besonderen. Der Wind war fast zum Stillstand gekommen, als wartete er ebenfalls auf das Zeichen des Trommlers, der erhöht auf einem Podest bereits mit gespannten Muskeln auf die untergehende Sonne am Horizont starrte. Wenn der obere Rand des Glutballs das Auge nicht mehr erreichte, dann würde er mit einem leisen Berühren der Tierhaut beginnen. Das letzte Viertel der Sonne versank, um an anderen Orten den Morgen zu bringen. Die laute Aufregung der Zuschauer verwandelte sich immer mehr in ein gespanntes Abwarten; Gespräche verebbten. Immer mehr Menschen fixierten den Horizont, niemand wollte das Gefühl der beginnenden Gänsehaut verpassen, das sich unweigerlich durch die aufgestaute Spannung beim ersten Ton entladen würde. Ihre Dichter beschrieben dieses Phänomen mit blumenreichen Worten und so manche bezogen sich auf das aufregende Durcheinander in den eigenen Empfindungen, die allein durch das Beisammensein in der zuschauenden Menge mit der Ausrichtung auf etwas Kommendes entstand.
Das Licht der Fackeln trat immer mehr hervor und beschien die still stehenden Männer auf dem Kampfplatz. Lediglich mit schwarzen, bequemen und doch anliegenden Lederhosen bekleidet standen sich die Kämpfer breitbeinig mit geschlossenen Augen gegenüber. Mit festem Stand hielten sie ihren Langstab aus Eichenholz quer über den Kopf. Sie hörten auf die Geräusche, auf den hoffentlich bald beginnenden leisen Ton des Trommlers. Ihre Oberkörper glänzten bereits durch die stehende Wärme, die vom aufgeheizten Sandboden noch verstärkt wurde. Ihr einziger Schmuck waren Lederbänder an den Oberarmen, die mit festen Schlaufen dort fixiert zu sein schienen.
Vielleicht zeichnete sie auch die Anstrengung der letzten Nacht im Versammlungshaus, keiner von beiden hatte geschlafen. Es hatte in der vorherigen Nacht Hirsch vom offenen Feuer gegeben, es gab Musik, es gab Tanz und es gab das beste Dunkelbier des Landes bis zum Sonnenaufgang. Es war eine althergebrachte Sitte, die zwei Kämpfenden vor der Mondnacht wie zwei Freunde aufeinander treffen zu lassen, da niemand wusste, ob es für einen der Beiden überhaupt ein Danach geben würde.
Das Prickeln auf der Haut kam. Eine Minute lang steigerte sich der Klang der Trommel in immer schneller und lauter werdenden tiefen, dumpfen Tönen, um schließlich mit einem letzten lauten Vibrieren in eine absolute Stille zu versinken. Die Augen der Männer öffneten sich. Das Blau von Ragnar traf auf das Tiefgründige von Kjell und beide sprangen mit einem Satz nach außen, um einem eventuellen Vorstoß des anderen zuvorzukommen. Katzengleich fixierten sich die Kontrahenten mit einem tiefen Stand und dem mit beiden Händen vor dem Körper gehaltenen Stab. Bewegte sich der eine langsam, so folgte der andere um den Abstand konstant zu halten. Es gehörte zum Kampfritual, das seine eigene Regeln schrieb und doch immer wieder von besonders Wagemutigen durchbrochen wurde. Bei gleichstarken Kämpfern hing der Sieg davon ab; es galt dann mit Fantasie den eigenen Kampfstil zu verfeinern und den anderen Gegner zu überraschen. Ragnar und Kjell kämpften seitdem sie denken konnten; insofern kannten sie die Kondition und die Eigenheiten des Anderen; nichts würde sich wirklich als unerwartet erweisen können.
Die Zuschauer atmeten kaum. Das Betrachten nahm sie völlig ein, als läge ein Bann über ihren Sinnen, der nichts anderes in ihren Gedanken zuließ. Ungewollt lebten sie jede Bewegung mit, verkrallten ihre Finger in der Schulter des Sitznachbarns, verbargen ihre Augen, um nicht das Schlimmste sehen zu müssen und befreiten sich doch wieder von diesem Reflex, da die Neugier sie packte. So mancher sah genau in dem Moment wieder auf den Mittelpunkt des Platzes, als Ragnar mit unglaublicher Geschwindigkeit herumwirbelte und dabei Kjell seitlich mit seinem Stab von den Füßen reißen wollte. Doch Kjell gehörte zu den intuitiven Kämpfern, die unglaublicherweise jeden Vorstoß des Feindes vorhersahen und anscheinend die Gedanken des Gegenübers erkannten, bevor dieser überhaupt wusste, dass er sie ausführen würde. Kjell besaß nicht die übergroße, bullige Muskelkraft von Ragnar, er war eher schlank und muskulös, sehnig und auf seine Art geschmeidig wie fließendes Wasser, kaum zu fassen und doch reißend im Fokus seines Willens.
Ohne ein auffangendes Ziel riss es Ragnar durch die eigene Wucht fast von den Füßen; für einen kleinen Moment kippte seine Achse. Die Überraschung über das verfehlte Ziel zeigte sich in seinem braun gebrannten Gesicht, das die eigene Verwirrung darüber erkennen ließ, den entscheidenden Moment des Ausweichens erst zu spät bemerkt zu haben. Vielleicht lag es an der schlaflosen Nacht, vielleicht lag es am Dunkelbier, dessen Auswirkungen noch am späten Nachmittag ihr Unwesen trieben und den beiden Kontrahenten kaum Zeit ließen, um die Vorbereitung mit einer meditativen Stunde abzuschließen. Sie stellte für einen guten Kampf eine der tragenden Säulen dar und war nicht zu unterschätzen.
So traf Kjells Stab auf Ragnars Unterarm, dessen Hand sofort den Stab freiließ, da sich die Nerven und Muskeln im absoluten Alarmzustand befanden. Das Knirschen der Knochen hörten noch die Kinder auf ihren Fackelpositionen. Blut verfärbte den hellen Sand in einen dunklen Schattenbereich. Die eben noch eisenharte Hand hing nur noch an Haut, Muskeln und Sehnen, die die Zerstörung der Knochen nicht mehr verbergen konnten, da die Speiche und Elle mit scharfen Enden hervorstanden. Entsetzt starrte Ragnar auf seinen rechten Arm. Ein kurzes Stöhnen zeichnete ihn als Verletzten, doch seine Reaktion war schnell. Er klemmte seinen Stab unter die Achsel und rollte das Lederband von seinem Oberarm zum misshandelten Unterarm herab, zog mit den Zähnen an dem Band und fixierte damit die Knochen. Kjell ließ ihm diesen Moment, alles andere hätte ihn die Enttäuschung der Zuschauer ausgeliefert, es war auch eine Frage des ehrbaren Verhaltens während eines Kampfes.
Mit einem Aufblicken signalisierte Ragnar den Fortgang. Unerfahrene könnten meinen, dass der Kampf mit einem Verletzten den Ausgang vorgab, doch genau das Gegenteil war der Fall. Jeder Zuschauer kannte aus dem Tierreich wie sich gerade Raubtiere in einem verletzten Zustand zu reißenden Bestien verwandeln konnten. Tiefes Atmen ließ Ragnars Oberkörper sich auf und ab bewegen und seine Gesichtsmuskeln arbeiten. Er würde nicht als Verlierer diesen Platz verlassen, diese Gewissheit besaß er; nicht er verlor. Kjell bewegte seinen Stab immer wieder spielerisch hin und her, um seinem Gegenüber nicht die Art des nächsten Angriffs erraten lassen zu können. Er wusste nur zu gut, wie gefährlich Ragnar in diesem Moment war.
Manchmal besaß das Schicksal seinen eigenen Humor und es verteilte die Spielkarten neu. Manchmal geschahen Dinge in Vollmondnächten, die niemand hätte vorhersagen können. Manchmal brach ein Vulkan aus den Urtiefen der Erde hervor, manchmal erschütterte ein Erdbeben den Boden und manchmal trat eine in heller Kampfkleidung gewandete Frau an die Seite der Trommel, so dass nicht nur die Zuschauer sie von allen Seiten sofort erkennen mussten, sondern auch die Kämpfer, die direkt zu Füßen des Podestes um ihr Leben rangen. Solch eine Veränderung der Lage konnte auch ein Kjell nicht vorhersehen; diesmal lag es an ihm, seine ausdrucksstarken Gesichtszüge mit Überraschung zu kleiden. Durch das Auftauchen seines Herzenswunsches sah er den herabsausenden Stab einen winzigen Moment zu spät und fiel knapp an der Stirn getroffen zu Boden. Ragnar wollte sofort nachsetzen, doch dann hörte er das Zeichen des Trommlers, das zu einem augenblicklichen Gefrieren des Moments zwang. Überrascht schaute der Angreifer auf. Kjell stöhnte und wischte sich das Blut der Platzwunde aus den Augen.
Ihre Stimme erklang von der Mitte des Platzes bis zum Rand der Fackeln, erreichte den Schein des Mondes und jedes zuhörende Herz:
„Seit Jahrhunderten kämpfen wir in diesem Dorf, seit Jahrhunderten ehren wir unsere Besten mit Anerkennung und Lob, seit Jahrhunderten bedurfte es des Blutzolles nur in seltenen unglücklichen Vollmondnächten, die mit anschließender Trauer unser Leben überschatteten. In unserem Dorf wird geboren, wird geliebt, wird gelacht, wird gelernt und es wird nach einem langen Leben gestorben; so soll es sein. In unserem Dorf gibt es große Familien, es gibt Junge und Alte und es gibt allein Lebende, die noch auf der Suche nach einem passenden Seelenverwandten sind und ihn oder sie mit Gewissheit irgendwann finden werden – denn Leben schreitet voran, ohne unsere Hilfe, einfach so.
Und ihr!“
Mit Verachtung schmiss sie die beiden Schlegel des Trommlers in den Sand.
„Und ihr, ihr glaubt wirklich, durch einen Kampf, dessen Ergebnis mit Muskelkraft und Geschick gefunden wurde, eine Entscheidung über ein anderes Leben treffen zu können! Der Gewinner würde nur noch allein um meine Hand freien dürfen! Habt ihr eine Sekunde daran gedacht, dass Entscheidungen in der Liebe allein durch Herzen getroffen werden können? Habt ihr eine Sekunde an mich gedacht?“
Aufrecht stand sie da, der Mondschein fiel auf ihr geflochtenes Haar, zeigte ihre enttäuschten Gesichtszüge und zeigte die Wut in ihren Augen.
„Ich wünsche mir den aufwachsenden Frauen Männer an die Seite, die nicht nur die Ehre des Kampfes mit gebührendem Respekt verpflichtet sind. Ich wünsche mir den aufwachsenden Frauen Männer an die Seite, die jedes Leben achten und hochhalten, sei es Mann oder Frau. So sei es.“
Wolken zogen vor den Mond und Jahrhunderte vergingen.
Wo stehen wir heute?