Katakomben

Warum musste ich das immer so machen? Könnte ich mich nicht einmal selbst überraschen und darauf verzichten? Könnte ich nicht einmal ohne diesen inneren Drang der Wissbegierde auf Neues zugehen und es ganz simpel bestaunen und genießen? Wie lange wird meine Lampe brennen? Als ich am Eingang der Pariser Unterwelt meinen roten Helm und die Kopflampe bekam, dachte ich einen winzigen Augenblick darüber nach, ob ich jetzt aussah wie ein überdimensionales Marsmännchen. Da aber alle Gruppenmitglieder damit bestückt wurden, verlor sich der Gedanke im Dunkel, das uns entgegenschaute.

In diesem Jahr jährte sich mein sommerlicher Paris-Aufenthalt zum zehnten Male. Als mein Vater zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter wieder heiraten wollte, brach für mich damals meine gewohnte Welt zusammen und es dauerte einige Monate bis ich mich mit Zoe, einer quirligen und bodenständigen Französin, anfreundete und sie als meine Stiefmutter akzeptierte. Nichtsdestotrotz entschied ich mich mit meinen damaligen 16 Jahren in Hamburg bei meinen Großeltern wohnen zu bleiben  und den Frischvermählten nicht zu folgen. Damit wir uns trotzdem immer wieder sehen konnten, verbrachte ich die Ferien fortan in Paris. Zoe hatte selbst zwei Kinder: Emma, in meinem Alter und mit beneidenswerten langen roten Haaren, die sie mit viel Fantasie auf alle erdenklichen Weisen hochsteckte und Pierre, ihren großen Bruder, der, naja was soll ich sagen? Dieser verkörperte den Bilderbuch-Franzosen mit dunkelbraunem, lockigem Haar und einem verschmitzten Lächeln, das mich vom ersten Tag an schmelzen ließ. Er sprach sogar gebrochen Deutsch mit diesem wundervollen Akzent, der vermutlich alle umherschwirrenden Frauen tief seufzen ließ. So bedurfte es niemals irgendeiner Überredung so viel Zeit wie möglich in Paris zu verbringen. Selbstverständlich hing ich in den ersten Jahren mit meiner Schwärmerei für Pierre einer pubertären Schwäche nach und genoß seine Nähe. Doch für ihn war ich nur die kleine Schwester; er stand auf die um einige Jahre älteren, selbstbewussten Frauen in seinem studentischen Umkreis. Doch das war okay, denn schließlich halfen mir diese, immer den neuesten Stand der modischen Merkwürdigkeiten nach Hamburg zu bringen.

Jetzt war ich selbst Studentin und stand kurz vor dem Abschluß des Master of Science. Als fertige Biologin sollte es später im Umweltschutz weitergehen; ja, ich wollte die Welt retten und das fing mit einer ganzen Menge Wissen an, das ich mittlerweile ohne Angeberei wirklich mein Eigen nennen konnte, doch das half jetzt gerade irgendwie nicht. Denn jetzt in diesem Moment krallte sich Angst in meine Eingeweide. Ich stand allein in einem vielleicht 1,80 m hohen, in den Stein gehauenen Tunnel, der mit immer wieder geraden Teilstücken ein Ziel suggerierte. Ab und an ging es abrupt drei Stufen weiter ins Erdreich hinab oder der Tunnel führte spontan um die Ecke, die dahinter zwei Möglichkeiten offerierte, damit der Wanderer vor der fast unmöglichen Entscheidung stand, die linke oder die rechte Möglichkeit zu wählen. Es sah alles sehr wohl geordnet aus. Bisher hätte ich meinen können, irgendwer käme täglich mit dem Besen, um den Zahn der Zeit ein wenig zu polieren. Gerade eben noch, also vor gefühlten fünf Minuten, gab es ebenfalls Abzweigungen. Die ganze Gruppe betrachtete gemeinsam mit der Tunnelführerin Sibylle die in den Wänden untergebrachten unzähligen Knochen, Schädel und die Hinterlassenschaften neuerer Zeit. Sibylle erzählte etwas langweilig und da es bereits der dritte Besuch hier unten in den Eingeweiden der Stadt war, fühlte ich mich relativ sicher und völlig Frau der Lage. Ich wollte den Nachmittag sinnvoll nutzen, bevor Emma und Pierre ebenfalls bei unseren Eltern eintrudelten. Et voilà! Hier war ich nun. Schon bei den letzten Besuchen gönnte ich mir ein vorsichtiges um die Ecke Schauen, wenn der Gruppenführer nicht hinsah, doch heute schien ich mit kleinen Einblicken nicht ausgelastet zu sein. Schließlich hörte ich Sibylles Stimme voll und klar, zwar immer ein klein wenig weniger, doch ich hörte sie. Die einzige unbekannte Komponente, sozusagen der x-Faktor, bestand in der Tatsache, zu einem ungünstigen Moment nicht darüber nachzudenken, dass die Gruppe nicht festgeschraubt auf mich warten würde, sondern ebenfalls einer eigenen Dynamik unterlag. Felsenwände sind hart, dick und schalldämmend; zwei Ecken weiter hört selbst die Fledermaus nichts mehr. Ich wollte Wissenschaftlerin werden und dann geschah mir so ein grottenschlechter Fehler! Mit dem Bewusstsein der Stille kam der Griff ins Zwerchfell, Atmung ist dann fast Schwerstarbeit. Hastig folgte ich meinem Kopf-Licht um die drei Ecken, die ich meiner Neugier als Spielplatz zugebilligt hatte. Überrascht stellte ich fest, NICHT auf der Kreuzung der Wege, die eben noch Schauplatz der Gruppenführung war, einzutreffen. Still blieb ich stehen, um irgendwelche Geräusche orten zu können. Nichts. Mit tiefer Atmung versuchte ich meiner aufkommenden Panik entgegenzuwirken. Es klappte nur bedingt. Wenn ich gestern Nacht nicht so viel von diesen verdammten selbstgedrehten Grasdingern geraucht hätte, wären meine Entscheidungen heute Nachmittag vielleicht nicht ganz so zweifelhaft gewesen. Doch was macht man nicht alles, wenn ein gutaussehender Charmeur zwischen zwei Rotweinen sein neuestes Produkt aus dem Garten-Schuppen herumreichte? Ich kenne keine Frau, die Nein gesagt hätte, na gut, vielleicht meine 80-jährige Nachbarin in Hamburg. Wie konnte ich jetzt an Pierre denken, der mich höchstwahrscheinlich in diese verdammte Situation gebracht hatte? Konzentration! Telefon! Hektisch tastete ich meine Hosentaschen ab. Ich glaube es nicht! Vor meinem inneren Auge sah ich mich selbst, die noch im geparkten Auto ein paar Nachrichten versandte, das Handy auf den Beifahrersitz legte, ein Kaugummi aus der Mittelkonsole nahm und schließlich das Auto abschloss. Das Ding lag auf dem Beifahrersitz! Super, wahrscheinlich wurde der kleine Mini auch noch aufgebrochen, weil sichtbare Wertgegenstände ihre magische Anziehungskraft auf dubiose Subjekte besaßen. Ach was, es hätte hier unten wahrscheinlich auch nicht funktioniert…

Die ganze Zeit hielt ich mich mit meiner linken Hand an der Mauer fest. Ich brauchte etwas, was mir Halt gab, dafür war Stein gut. Konzentriert schaute ich dem steten Lichtschein meiner Lampe hinterher. Mein Fuß knickte plötzlich weg, da ich auf eine Unebenheit trat. Oha, ein großer Pfeil nach vorn. Super, hier konnte ich nur nach vorn gehen! Ich bückte mich, um das am Boden Liegende genauer betrachten zu können. Knochen! Irgendein Spaßvogel hatte aus wahrscheinlich ehemaligen Oberschenkeln und Oberarmen einen Pfeil gelegt. Ich konnte nur meinen Kopf schütteln. Gruselig fand ich es nicht. Wenn noch verwesendes Fleisch mit Maden drangehangen hätte, dann wäre es lediglich eklig. Ob Knochen nun von einem Menschen stammten oder von einem Tier, empfand ich nicht besonders als einen großen Unterschied. Beide waren tot. Die Seelen würden sich zu den anderen ins Universum begeben haben, denn Energie zog Energie an. Knochen sind dann nur noch die zurückgelassenen Koffer mit Kleidungsstücken, die schon lange nicht mehr passten. Ein Pfeil. Mmmh. Pfeile sind naturgemäß Richtungsweiser; der liebste wäre mir ein klassischer Exit-Pfeil mit Lichtgarantie. Ein Pfeil war doch gut, oder? Es kündigte sich etwas an, das diesem Tunneleinerlei etwas Farbe verpassen würde. Es könnte natürlich auch ein Hinweis auf einen morbiden Charakter sein, der vor seinem geistigen Auge arme Studentinnen mit gerunzelter Stirn und leicht nervösem Verhalten sah und sich dabei seines Lebens freute. Natürlich konnte es auch ein Lockmittel für neugierige Wesen sein, die einer Leidenschaft frönten und dabei nicht einmal bemerkten, in wenigen Momenten als Futter für etwas Größeres zu landen, vielleicht noch mit einem „Aha“ auf den Lippen. Hatte ich die Wahl? Nicht wirklich. Ein Zurück war überhaupt keine Option für mich, schließlich war ich ein positiver Charakter; Rückblicke konnten nur Erkenntnisse geben oder die Trauer über irgendwelche Fehlhandlungen auslösen oder total verwirren, also immer hübsch nach vorn.

Einen kleinen Moment blieb ich stehen und versuchte tiefer zu atmen. Irgendwie bekam ich nicht genug Luft, wahrscheinlich war ich so angespannt, dass mein Zwerchfell die Arbeit niederlegte und die eigentliche Aufgabe unbeaufsichtigt ließ. Einen kleinen Moment dachte ich über all die Stufen nach, die ich bereits immer wieder in minimalen Dreierschritten nach unten gegangen war. Das konnte auch eine Reise zum Mittelpunkt der Erde werden. Der Film ist doch gut ausgegangen, oder? Da! Schon wieder ein Pfeil. Dieses Mal war er hübsch gemacht mit ein paar Schädeln dazwischen – also ein kreativer Richtungsweiser, sozusagen von einem Künstler der Dunkelwelt, der wahrscheinlich im Licht keine graue Maus hervorlocken würde und hier nun seine letzten Asse zog. Ohne es zu merken beschleunigte ich meine Schritte. Ich hatte meinen Spaß, jetzt konnte langsam die Normalität wieder anfangen. Hektisch berührten meine Hände immer wieder die linke oder rechte Wand. Ich umrundete Ecken und entschied mich immer wieder für die linke Abzweigung; schließlich war ich eine eingefleischte Linkshänderin, auch wenn ich gezwungenermaßen mit Schulbeginn die rechte Hand hatte nutzen müssen. Mittlerweile lief ich die Gänge entlang in der Hoffnung, mit dem Laufen genug beschäftigt zu sein, um der Verzweiflung keinen Raum geben zu können, die immer weiter ihr zerstörerisches Handwerk ausübte. So lief ich mitten im Schein meiner Kopflampe meinem Verderben entgegen. Ich sah alles. Ich sah alles wie in einem angehaltenen Film mit der Ruhe zur Betrachtung, doch es gab keine Nanosekunde Zeit, um dem eigenen Schub durch das Rennen Einhalt zu gebieten.

Meine Füße verloren ihre Bodenhaftung und rutschten. Es war ein Rutschen auf sandigem Steinboden, der nirgendwo Halt versprach. Es war kein steiles Rutschen, das mich sofort nach hinten warf, sondern ein Rutschen wie auf einem Gleitboard; meine Arme rotierten, um das Gleichgewicht halten zu können. Zum Glück besaß mein Helm eine Befestigung unter meinem Kinn, sonst wäre dieser Geschichte gewesen. Meine Leuchte zeigte mir mit hektischem, hin und her huschendem Schein mein Ziel. Eine grobe Holztür versperrte in ungefähr fünf Metern mein Weiterschliddern. An sich war das eigentlich nicht schlimm. Wie oft bin ich mit Schwung gegen Hallenwände gerannt, wenn mich die Fliehkraft vom Rennen beim Volleyball aus der Bahn gebracht hatte. Das war also kein Problem… an sich. Ich war mit dem Ausbalancieren gut beschäftigt, doch schlich sich eine gewisse Problematik in mein Bewusstsein. Fast die ganze Tür ausfüllend, schien dort eine merkwürdige Apparatur befestigt zu sein. Aus irgendwelchen Dokus kannte fast jeder die simplen Tierfallen für den Wald, die hierzulande nicht wirklich üblich, doch eigentlich jedem bekannt waren. Es sah so aus, als öffnete sich ein überdimensionales Haifischgebiß, arme Tiere traten auf das Gelenk in der Mitte und die beiden Zahnreihen schnappten zu. Jetzt stelle sich der Denkende noch das Ganze aus Metall mit einem Durchmesser von ca. 80 Zentimetern vor. Anstelle des Gelenkes leuchtete mir ein großer Knopf mit der Aufforderung „Drück mich“ entgegen,  darunter der nette Hinweis „Ich hör dich ganz bestimmt!“. In einem relaxten Moment hätte ich das richtig witzig gefunden.

Mein entsetzter Schrei füllte den Raum und Geräusche übernahmen die Regie: Meine Füße fanden auf der Rampe, die zur Tür führte, nur losen Sand, der ein Schmirgeln fühlen und ertönen ließ; der Aufprall mitten auf den Knopf löste ein Ploppen aus, das den Beginn einer Maschinerie kennzeichnete. Metallspitzen erfassten mich und ein verzweifelter tiefer Atemzug markierte meine letzte Erinnerung.

Worte fingen mein Bewusstsein wieder ein: „Ma chérie!“ Meine Augenlider flatterten, mein Herz raste, als hätte ich gerade eine Achterbahnfahrt mit dreifachem Looping hinter mich gebracht. Arme umschlangen meinen Hals und mein Gesicht. Ich lag quer auf meinem Bett. Der Duft nach Abenteuer, Meer und Wüste, nach wilden Blumen mit einem ewigen Versprechen von Wildheit umhüllten mich. Pierre!

„Schwesterherz! Ich dachte, ich habe dich umgebracht! Du bekommst nie wieder etwas zu rauchen von mir! Du verträgst ja gar nichts! Oh Gott, bin ich froh!“ Fest nahm mich mein Bruder in den Arm. Vögel zwitscherten. Das Fenster stand offen und die Sonne schien hinein. Pierre drehte sich zur Tür: „Emma, sie ist wach, alles gut!“ Überglücklich lachend bekam ich das schönste Lächeln der Welt geschenkt. „Du hast lange geschlafen. Wir bekamen dich nicht mehr wach. Es ist gleich Mittag!“ Pierre stand auf, nahm eine Zeitung vom Tisch und warf sie mir auf den Bauch. „Zieh dich an, wir wollen uns heute die neueste Pariser Attraktion anschauen.“. Er zeigte auf das oberste Bild. Neugierig betrachtete ich das Foto. Fassungslos starrte ich auf das Papier, denn nur zwei Worte erreichten mein Bewusstsein: „Drück mich!“.