Das gewisse Etwas

Mitte Januar besuchte Jorma Lyly (6. Dan) aus Schweden das Aikido-Dojo von Michael Masch in Bremen. Mindestens 40 Teilnehmer im Rahmen eines Wochenendseminars erforschten die höhere Kunst der Balance, näherten sich dem eigenen Zentrum und probierten vor allem Beides ausgiebig aus. Als begeisterte Teilnehmerin möchte ich nachfolgend meine Eindrücke weitergeben:

Wir füllten das wunderschöne gemütliche Dojo mit viel Gelächter und trotzdem einer energievollen Konzentration. Viele Teilnehmer wunderten sich selbst über die Tatsache, dass dieses quirlige Miteinander überhaupt nicht als störend empfunden wurde. Das Seminar hätte auch mit viel mehr Personen oder auf noch weniger Raum stattfinden können, denn das Interessante passierte in uns selbst. Immer und immer wieder stellten sich die gleichen Fragen in den Raum: Was fühlte ich? An welcher Stelle meiner Bewegung ließ sich die Übertragung meines Handelns auf den Anderen erkennen? An welchem Punkt veränderte sich die Position meines Trainingspartners auf eine Art und Weise, die ihn von seinem festen Standpunkt löste? Wann fügte sich meine Bewegung von ganz alleine, so dass ein bewusstes Führen meiner Hand oder meines Körpers nicht mehr vonnöten war?

Lässt sich der Effekt des zwingend empfundenen Herabsinkens, des Verlierens der Standfestigkeit, das nicht freiwillige Nachgeben aufgrund der Ausübung einer Minimal-Bewegung unseres Gegenübers überhaupt irgendwie erklären? Mit welcher Fassungslosigkeit betrachtete ich bei einer der vielen komprimierten Zentrumsübungen meine eigene Wirkungskraft, die nicht nur meinen Uke, sondern auch einen weiteren Trainingspartner, der dessen Schultern von hinten erfasste, mit zu Boden riss. Ein spiegelgleiches Erfassen meines Handgelenkes lässt viele Möglichkeiten offen; ein erfahrener Aikidoka reagiert der Situation entsprechend angepasst, kurz, effektiv und immer wieder anders, abhängig von dem dargebrachten Angriff und dessen Einwirkung auf die eigene Energie. Doch bei Jorma ging es nicht um das Ausübungen perfekter Techniken oder deren Varianten-Vielfalt. Es ging ihm um das Erspüren, um das Herantasten an eine innere Kraft, die sich irgendwo in uns selbst vor dem eigenen Auge so lange versteckt, bis wir uns auf den Weg machen und sie aktiv suchen. Wir sprechen jetzt nicht über DIE Kraft, sondern um ein Gemenge von vielen Faktoren und einem inneren Beitrag, den niemand richtig erklären kann, auch wenn er es selbst an sich festgestellt hat.

So bleibt die Frage: Was führt uns in die richtige Richtung? Ein fester Stand ist abhängig von unserer Haltung, von einem Winkel zum Boden und der Verbindung dazu. Wir stehen gut, wenn wir uns fest mit dem Erdreich verschraubt fühlen und davon überzeugt sind, jeglichem Einfluss trotzen zu können. Jemand, der sich auf einen Anderen zubewegt, gibt in erster Linie diese Verschraubung auf, löst also ganz leicht seinen Stand gleich einem Blatt Papier, das ich anhebe, um darunter zu schauen. Als Nage nutze ich diese winzige Lücke; es ist genug Raum für etwas, was hier seinen Ansatz finden kann. Erfasst mein Gegenüber spiegelgleich mein linkes Handgelenk, so ist meine Positionierung, meine Ausrichtung, mein absoluter Fokus ein erster Schritt, den ich mit einem Tai-Sabaki ausführen kann. So richtet sich mein Innerstes an meinem Gegenüber aus, es ist ein absolutes Gegenüberstehen.

Mein Trainingspartner versuchte mich mit seinem Griff zu halten und mit der Drehung umging ich den Raum seiner Kraft, es war sozusagen ein Eintreten in eine Leere und Platz genug für mich als Nage. Bevor Uke diese Standortveränderung in einem Bruchteil einer Sekunde erfasst hatte, handelten meine Hände als Werkzeuge meines Wollens. Meine rechte Hand führte links an seinem Kopf vorbei über dessen Schulter hinweg. Ein unbedarfter Beobachter konnte nicht erkennen, was geschah – nur Nage und Uke spürten es. Achtete ich nicht darauf, meine Ellbogen während der Handbewegung vor meinem Körper zu halten und richtete ich sie nach außen aus, dann würde ich nicht mein Zentrum mit mir führen und nichts geschah; so war es an mir selbst, die Wirkung durch die richtige Führung nicht verpuffen zu lassen, also sozusagen den Kanal offenzuhalten.

Weiterhin drehte sich meine rechte Handinnenfläche nach oben und wies auf das Zentrum meines Gegenübers; führte ich meine gestreckten Finger in die falsche Richtung, so würde die bis hierhin von mir mitgebrachte Energie ebenfalls verpuffen, da mein Uke dort nicht stünde und es ihn nicht träfe.

Bewegte sich meine Hand über die Schulter des Anderen, so war es nicht nur ein Hinweggleiten. Es war eine leichte Kreisbewegung über die Schulterkugel, die sozusagen den Uke genau an dieser Stelle verwirrte und seinen Körper natürlich reagieren ließ. Zerlegte ich diese Kreisbewegung in kleine Sequenzen, so war es ein kurzer Widerstand für Uke, der ihn natürlicherweise dazu brachte, einen winzigen Moment dagegen zu halten; er merkte es nicht einmal. Uke kam mir dadurch minimal und kaum sichtbar mit seiner Schulter entgegen, womit er sich unabhängig von seinem eigenen, mir entgegen gebrachten Impuls verstärkt aus dem sicheren Stand brachte. Um im vorherigen Vergleich zu bleiben: Das Blatt Papier wurde noch mehr angehoben! Meine komprimierte Energie würde sich dies zunutze machen und mit der Führung meiner Hand mein Gegenüber zu einem als zwingend empfundenen Fall nötigen. Jorma wurde nicht müde, jeden einzelnen Trainierenden immer wieder auf das Erfühlen der richtigen Handhabung hinzuweisen; er zeigte Richtiges und Falsches. Nur wenn ich die Auswirkung dieser kleinen Wichtigkeiten erfühle und damit erkenne, kann ich es selbst erproben, da ich es schon einmal gefühlt habe.

Doch Jorma wies auch auf einen sehr wesentlichen Punkt hin: Ein Lehrer kann nur eine Richtung weisen, da die inneren Bereiche eines jeden so unterschiedlich verschlungen sind, dass wir nur selbst diese kennen. Wo sich unsere innere Kraft befindet und wie wir sie ans Licht holen können, obliegt uns ganz allein; dafür braucht es viele Jahre gute Trainingserfahrung, Achtsamkeit und vor allem Geduld mit sich selbst.

Vielen Dank für das wundervolle Seminar!