Wenn die Kraniche ziehen…

Das Schmuddelwetter hier in Schleswig-Holstein machte mich noch fertig! Seufzend zog ich meine Kapuze etwas mehr über das Gesicht, damit die Regentropfen nicht ständig ihren Weg in meinen Kragen finden konnten. Ach nein, ich musste mich korrigieren, dieses Wetter besaß noch die Eigenschaft der Krabbelkälte – über Null Grad und trotzdem mega kalt – da der Wind quer stand und wirklich jede Ritze in der Winterjacke fand und dies auch mit großem Erfolgsgeschrei in die Welt hinausposaunte. Eigentlich war das genug Grund für eine richtig miese Stimmung. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Mein noch hellbrauner Wollknäuel untersuchte gerade begeistert niedrige Büsche am Rand des Weges, so stand ich und wartete. Mit geschlossenen Augen hob ich mein Gesicht wieder dem Himmel entgegen und ließ bewusst den Regen auf mein Gesicht fallen. Vor meinem inneren Auge sah ich jeden einzelnen Tropfen auf meiner Haut zerplatzen und herunter rinnen; sie massierten meine Wangen durch den Aufprall und ließen mich ihre Kühle spüren, die windabgewandt überhaupt nicht mehr von mir als unangenehm empfunden wurde. Es war eher ein Hallo-ich-bin-hier-und-möchte-dir-etwas-Gutes-tun. Lächelnd ließ ich ihnen ihren Willen und genoss es.

Mit dem Beginn eines neuen Jahres standen immer Veränderungen wartend vor der Tür. In diesem Jahr würde ich diese Besucher erst einmal einer strengen Taschenkontrolle mit sehr intensiven Einzelgesprächen unterziehen, bevor irgendetwas mich hinter dem Eingang überraschen könnte. Also ganz gemach. Das Wesentliche zählte und im Moment waren es abertausend Regentropfen, die mich verwöhnten. Mit einem kurzen Blinzeln überprüfte ich schnell den hörbaren Spaß meines Hundes und schloss wieder meine Augen. Wenn den Augen die Sicht verwehrt wurde, dann übernahm der Rest der Sinne mit Begeisterung, als stünden sie vor einer herausfordernden Aufgabe, die sie unbedingt erfüllen wollten. Grinsend stellte ich mir meine Ohren vor, die gerade wie Fünfjährige herumsprangen und meine Aufmerksamkeit erhaschen wollten. Ich nahm sie in die Arme und hörte.

Jetzt verstand ich! Noch leise, doch immer stärker werdend kam der Trompeten-Ruf: Krru – Krarr: ein fast erhabenes Trompeten. Begeistert öffnete ich meine Augen. Noch so spät! Eine kleine Keilformation der großen Vögel zeichnete sich im Osten hinter den Baumreihen ab. Einem kurzen Schlagen der langen Schwingen mit ihren gespreizten Federn folgte ein längeres Schweben. Sie waren wundervoll! Auch wenn Nils Holgerson auf Wildgänsen seiner Neugier nachgab, so lag mein Herz bei den Kranichen und ich stellte mir seit frühester Kindheit vor, ihnen folgen zu dürfen. Ich wollte ihnen dorthin folgen, wo es warm war, dort, wo dieser Winter sie nicht einholen würde. In meinen Tagträumen verkleinerte ich mich in eine ideale Größe für eine Reise auf ihren breiten Schultern mit wehenden Haaren im Wind…

Die Höhe machte mir nichts aus, schließlich vertraute ich ihnen, dass sie mich niemals fallen ließen! Wisst ihr, wie gewandt sie sein können und unglaublich formvollendet? Die Reise war ein erfüllendes Rauschen. Ich sah von weit oben ein weißes Schloss aus alter Zeit, eingefasst von einem unglaublichen Garten mit unzähligen Blütenstauden, die sich in windenden Ranken um die Wege zogen und den Besucher auf längere Wege verführte, als sie mit Sicherheit geplant hatten. Wir flogen nicht hoch, denn Kraniche suchten Plätze für Aufwinde, um die Höhen erreichen zu können, die sie für den Weiterflug benötigten. So war es ein Geschenk an mich, dass gerade hier die Erde die nötige Wärme von sich gab und meine Begleiter sich aus der Keilformation lösten und scheinbar ganz ungeplant langsame Kreise zogen. Ich durfte diesen Teil der Reise gemeinsam mit Lin-A erleben, die immerzu der Meinung war, Wissenswertes über den gerade überflogenen Landstrich von sich geben müssen. Manchmal hörte ich nicht mehr hin, genau wie im Mathe-Unterricht. Meine Mathe-Lehrerin bemerkte es nicht, Lin-A schon.

„Stine, kannst Du nicht einmal etwas konzentrierter zuhören? Ich erzähle es doch nicht zum Spaß! Du sollst lernen, damit Du es selbst irgendwann erzählen kannst!“

Als Antwort kraulte ich Lin-A zwischen ihren Schultern. Sie liebte es, da sie selbst nicht an diese Stelle herankam; sie wusste aber auch, dass ich keine Antwort besaß und sie nur beruhigen wollte. So hörte ich ihr Zischeln mit der Zunge, das einerseits ihren Genuss zeigte und andererseits ihr Missfallen über meine Träumerei ausdrückte.

Warmer Wind wehte meine Haare durcheinander und trocknete meine Lippen, die ich unbewusst fast die ganze Zeit zu einem breiten Lächeln auseinanderzog. Meine Augen folgten Lin-As Flügelspitzen. Ganz die Lehrerin wies sie mich auf die fast nicht erkennbaren Kleinigkeiten des Landes hin. Wir zogen weiter über Landstriche, die riesige Lavendelfelder über die Hügel ihr Eigen nennen durften. Das intensive Lila zeigte sich nur noch verblasst, doch ich bildete mir ein, den süßlichen Geruch noch einatmen zu können. Wege durchzogen die blasse Pracht, manchmal gerade, manchmal schlängelten sie sich um Anhöhen, die eine gute Übersicht über das Land zuließen. Doch es würde nicht meine Aussicht bestechen können! Lin-A zeigte nun auf einen Reiter, der es unter unserem Schweben gerade anscheinend ganz eilig hatte. Obwohl meine Augen vieles erkennen konnten, sah ich nicht, ob der Mann jünger oder älter war, irgendetwas dazwischen traf wohl die Wahrheit. Gebannt verfolgte fast der ganze Schwarm seinen Ritt. Wir kreisten, doch Ka-I, Lin-As Bruder und der Leitflieger hätte meine Großmutter sein können, die immer von ihrem Fenster aus die Straße beobachtete, und das Neueste IMMER als Erste wusste. So führte Ka-I seinen Trupp in die Schwebekreise, obwohl, ich hätte es schwören können, die Aufwinde nicht besonders gut waren, um diese zu nutzen. Doch Ka-I wollte wissen, warum dieser Mann wie ein Pfeil durch die Lavendelfelder ritt. Lin-A blinzelte zu mir hoch. Wir verstanden uns ohne Worte. Wie jedes empfindsame Lebewesen las sie meine Gedanken und schnatterte belustigt. Als ich mich umsah, hörte ich die anderen schon wild spekulieren:

„Der flüchtet, wahrscheinlich hat er einem anderen das Fressen gestohlen und sieht zu, dass er Land gewinnt!“ Klar, unser Moppel in der Runde, Mi-An.

„Nee, der hatte keine Lust mehr, bei seiner Truppe zu sein; manchmal ist Familie echt anstrengend!“, sprach Ka-I und lugte zu Lin-A, die ihn entrüstet anfauchte.

„Ich glaube“, fügte der wirklich imposanteste Kranich der Gruppe und Liebling aller mitfliegenden Damen hinzu, „der hat eine wirklich spannende Verabredung!“

Ich lachte und wusste genau, dass wir solange hier kreisen würden, bis das Geheimnis als solches gelüftet sein würde; Kraniche sind sehr wissbegierig. Ehrlich gesagt, war ich mittlerweile selbst neugierig. So flogen wir die ganze Zeit über seinem Haupt, ohne dass er bemerkte, dass wir immer wieder Kreise zogen, bevor wir ihn überholen konnten. Ein Schwarm Kraniche begab sich auf Verfolgungstour, wie im Fernsehen!

Wir überflogen ein kleines Wäldchen und umrundeten einen See mit unzähligen Fischen, die wir von oben sehen konnten. Normalerweise hätten wir an dieser Stelle sofort gerastet, doch erst musste ein Geheimnis gelüftet werden. Später würden wir ganz bestimmt wieder hierher zurück finden, denn die Sonne stand schon tief.

Es war soweit! Endlich verlangsamte der Reiter seinen Galopp, bis er an einem Hügelgrab hielt und sein Pferd zum Grasen frei gab.

„Will der jetzt ein Picknick machen?“, fragte Mi-An.

„Quatsch, der kann nicht mehr und brauch ’ne Pause“, meine Lin-A.

„Ich glaub, selbst ich liege falsch…“, meinte der Liebling der Damen. Nun schauten alle wie gebannt nach unten. Man gut, dass im Himmel keine Wände stehen…

Der Reiter rollte einen Stein zur Seite. Die Anstrengung war ihm anzusehen. Ging er jetzt ins dunkle Grab? Das konnte er doch nicht tun! Einen kleinen Moment hörte ich mich selbst diese Worte in Gedanken sagen. Warum denn nicht? Hatten wir denn nicht schon lange die abergläubischen Vorstellungen hinter uns gelassen?

Jetzt waren bestimmt schon zehn Minuten vergangen. Noch immer geschah nichts. Lin-A schnaubte:

„Das gefällt mir nicht…“ Mit einem unvorbereiteten Sturzflug steuerte sie direkt auf das Hügelgrab zu, ignorierte das Schimpfen ihres Bruders, der sich immer wieder aufregte, da sie ständig seine Autorität untergrub. Erschrocken krallte ich mich in die harten Federn am Rücken und musste doch lachen. Fliegen berauschte und ließ mich immer wieder von Null auf Hundert einfach überglücklich sein. Etwas atemlos landeten wir auf der runden Erhebung, vorsichtig immer wieder den Eingang beobachtend, falls der Mann doch noch wieder herauskäme. Das Pferd graste friedlich weit entfernt und kümmerte sich nicht um uns. Lin-A drehte sich zu mir um, sah mich nur an und ich nickte. Ich wusste was zu tun war und stieg von ihrem Rücken. Etwas weiter entfernt landete der Rest der Gruppe und reckte seine Hälse, um auch nichts zu verpassen.

Einmal tief durchatmend ging ich mit langsamen Schritten zum Eingang des Grabes.

„Hallo? Geht es Ihnen gut?“ Nichts geschah und ich sah fragend zu Lin-A hoch, die über dem Eingang stand. Sie schnatterte. Ach so…

„Hallo? Comment ça va?“ Stolz über meine restlichen Schulkenntnisse traute ich mich an den Eingang heran. Das Licht der Abendsonne schien glücklicherweise etwas hinein. Ich sah ihn! Er kniete auf dem Boden vor Tafeln und ich sah nur seinen zu mir gewandten Rücken. Seine Kleidung schien einfach und praktisch zu sein: ein Reiter mit Stiefeln, Lederhose und Leinenhemd mit Weste, doch er reagierte nicht. Mutig durchschritt ich den Eingang und wunderte mich, dass es hier nach Blumen roch. Ich schaute zum Boden. Ich trat auf unzählige Blüten! Getrocknete und frische Blätter füllten den ganzen Raum. Der Duft betäubte, doch ich spürte auch eine beruhigende Wirkung. Lavendel! Ich liebte Lavendel! Immer mit einem Auge den Mann beobachtend griff ich überrascht ins Blütenmeer und nahm einige in meine Hand.

Eine tiefe warme Stimme sprach: „Ich weiß, dass Du hier bist. Ich spüre Dich!“. Erschrocken blieb ich stehen. Mein Herz schlug bis zum Kinn. Eigentlich müsste ich vor Angst vergehen, doch ich fühlte mich trotz der fremden Umgebung aufgehoben und beschützt. Er blieb immer noch knien und drehte sich auch nicht zu mir um. Der Raum dämpfte auch das Schnattern meiner Freunde, die alle durch meine Gedanken mit mir verbunden waren und mich mit Ratschlägen überhäuften. Ich schob sie gedanklich beiseite und betrachtete den Rücken des Mannes, der mir so vertraut schien. Er flüsterte:

„Wir werden uns wiedersehen, zur rechten Zeit, am rechten Ort. Ich weiß es…“.

Vorsichtig ging ich auf ihn zu und wollte seine Schulter berühren; meine Hand konnte ihn jedoch nicht fassen. Sie durchschnitt sein Bild, das ich im Halbdunkel vor mir sah. Meine Freunde verstummten; Lin-A rief mich zu sich.

Langsam öffnete ich meine Augen. Der kalte Regen hatte sich verzogen und nahm die vielen Wolken mit, die sich heute mit so viel Macht über das ganze Land legten. Der Wind riss genau über meinem Kopf die dunkle Decke auseinander und zeigte stolz den blauen Himmel. Das Klopfen meines Herzens beruhigte sich. Ich zog meine Hände aus der Winterjacke und hielt sie den Sonnenstrahlen entgegen. Überrascht sah ich auf meine linke Hand… Lavendel im Januar!

 

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Anm. z. Titelbild: © H. Joachim http://www.archenatur.de