Knopfaugen

Ein früher Morgen im Noch-Dunkel, Kälte im Januar, schläfrige Müdigkeit und warme Hände, weil die Jacke so kuschelig ist… Langsam folgte ich meinem Hund, der mit einer begeisterten Ignoranz mindestens fünf Minuten an einem Baum schnüffeln musste, da vermutlich bereits eine Handvoll andere genau diesen Ort untersucht hatten. Seufz! Muss sonst irgendeine arme Seele diese Diskrepanz zwischen Wollen und Müssen aushalten? Moin! Gut, die Frage war schon mal beantwortet… Noch knittriger als es mein Spiegelbild ist, kam mir ein junger Vater mit Dreitagebart und Kinderwagen entgegen. Eigentlich war ein störrischer Hovawart überhaupt nicht schlimm, der schrie wenigstens nicht die ganze Nacht, der stupste mich nur ab 22:30 Uhr an, da er ungern alleine schlafen ging. Ordnung musste schließlich sein.

Die Leine locker um mein Handgelenk geschlungen, trauerte ich meinen Handschuhen nach, die noch gut verpackt im Keller vor sich hin rotteten und sich wahrscheinlich zum tausendsten Mal ihre Sinnfrage stellten, da die Besitzerin sie eigenhändig kaufte, doch bis dato mit Nichtachtung bestrafte. Ich musste lächeln: Das Bild der empörten Fäustlinge gefiel mir. Ein kräftiger Ruck an der Leine killte mein träumerisches Dasein, ruinierte meine Standfestigkeit und endete mit der Feststellung, dass Bäume auch im Winter keinen Schritt zur Seite gingen. Ich wusste gar nicht, wie viele Schimpfworte sich noch in meinem aktiven Sprachschatz tummelten; wenn die Stirn nicht so weh getan hätte, wäre ich von mir begeistert gewesen. Mein erfolgreicher Beschützer fixierte mit einem urtiefen, männlichen Knurren das graue, miauende Monster meiner Nachbarin, das fast lasziv durch den Zaun ihr empörtes Gegenüber betrachtete. Oh Mann, fast jeden Morgen machte ich das mit. Eigentlich könnte ein unbedarfter Beobachter meinen, es müsste sich so langsam ein Lernwert eingefunden haben, doch weder mein Hund noch ich fühlten uns morgens um 06:00 Uhr in der Lage, gelassen oder vorausschauend zu sein. Täglich grüßt das Murmeltier!

Immerhin war ich nun hellwach und das ohne einen Tropfen Kaffee! Innerlich mich zusammenreißend nötigte ich meinen bellenden Blondi an meine Seite, um den Platz der ungleichen Auseinandersetzung zu verlassen. Ich schwitzte; sich wehrende 40 Kilogramm wollten erst einmal mit Muskelkraft bewegt werden. Unweigerlich musste ich lachen: Vor sechs Jahren hob ich diesen Wuschel einfach hoch und fand sein zaghaftes Knurren mega süß. Mit der Erinnerung im Kopf tätschelte ich meinen immer noch nach hinten schauenden Begleiter auf seinen Kopf, obwohl ich ganz genau wusste, dass ich damit gerade sein Verhalten belohnte. Ach was soll‘s. Im Grunde liebte ich charakterstarke Wesen, die ihren eigenen Kopf besaßen und durch nichts und niemanden von ihrem Weg abzubringen waren. Nur manchmal wäre ein klein wenig Rücksicht angemessen.

Tief einatmend genoss ich die klare Luft des frühen Morgens. Alles war gut! Es konnte noch ein richtig schöner Tag werden! Das Geräusch klappernder Zähne ließ mich grinsen. Ach ja, hier gab es eine Menge Hunde-Damen. Es hörte sich wirklich so an, als ließe ich das Vorzeige-Gebiss für die Zahnpflege beim Zahnarzt immer wieder aufeinander fallen; mein Hund konnte es sogar mit einem kurzen Staccato. Ich versuchte es einmal in dem Tempo nachzumachen, es ging nicht; meine Wangenmuskeln verkrampften. Ehre, wem Ehre gebührt; ich musste nicht alles können. Völlig abgelenkt von meinem vielseitigen Hund bemerkte ich erst spät, dass ein Nachbar aus der Nebenstraße ebenso die Rasenecke ansteuerte, auf der wir uns befanden. An sich ist das nicht schlimm, wir kennen uns, grüßen uns, klönen auch manchmal, doch unsere Hunde fanden, dass nur ein Rüde im Umkreis von fünf Kilometer existieren dürfe. Sch… Mein Nachbar schien auch nicht wirklich begeistert, mich in seinem Universum anzutreffen. Unser Erkennen war auch gleichzeitig das Erkennen zwischen den Hunden. Schlachtrufmäßig stürzten sich zwei Rüden aufeinander, ohne die Tatsache des Vorhandenseins irgendwelcher Leinen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Da sag mir noch einer, es ist wichtig, den Tag so nehmen wie er käme. Besaßen solche Klugredner Hunde? Beherzt ergriffen mein Nachbar und ich fast ganz die Situation kontrollierend die beiden Raufbolde am Halsband und schleiften sie mit viel empörtem Hundegebell weiter. Völlig außer Atem sortierte ich die Leine und mich selbst. Nur noch 200 m! Gleich hatten wir es geschafft und ich könnte endlich meine völlig entspannenden Aufgaben beginnen. Das war Arbeits-Flucht mit einer völlig neuen Bedeutung!

Nur noch 100 m! Nach meinem Haustürschlüssel suchend fingerte ich in allen Taschen herum. Es sei vielleicht erwähnt, dass mein Fokus leicht zu bannen war; nur deshalb ließ es sich erklären, dass ich zu dieser frühmorgendlichen Uhrzeit meine Nachbarin mit ihrer vierjährigen Tochter an der Hand ebenfalls erst spät bemerkte.

„Chapper!“ Das kleine Mädchen riss sich von der Hand ihrer Mutter los, um sich mit langer Zipfelmütze und Wollhandschuhen bewaffnet meinem Kämpfer in die Arme zu werfen. Erschrocken über den nahen Ruf, ließ ich meine gerade gefundenen Schlüssel fallen, um die Leine unter Kontrolle zu bekommen. Doch Hund und Mädchen trafen sich bereits auf Augenhöhe. Freudiges Jauchzen von zwei Seiten, Herumspringen mit wedelndem Schwanz und ein Herumknuddeln, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. Das eben noch kraftstrotzende Muskelpaket ließ sich von kleinen Mädchenhänden liebkosen, stand nun ganz still, auch wenn die Handschuhe immer wieder über seine Augen fuhren, die er blinzelnd zu schützen versuchte.

Da sah ich ihn, meinen Frühaufsteher, Beschützer, Raufbold und Liebenden. Der Tag konnte wirklich nicht besser anfangen!

 

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Anm. z. Titelbild: Chapper vor sechs Jahren