Verschlungene Pfade

Es war soweit! Mein Herz klopfte, als stünde ich wieder vor dem Abgrund am Black Canyon of the Gunnison und blickte hinunter. Ich war mir nicht sicher, ob das Gefühl, ein junger Adler mit einer umfassenden Spannweite zu sein, wirklich reichen würde, die unsichtbare Brücke zwischen Diesseits und Jenseits zu finden. Meine Aufregung nahm mir die Luft zum Atmen. Die Sonne schien und das dunkel glitzernde Gestein aus alter Zeit zwang sich in mein zehnjähriges Bewusstsein, um mich zu halten, mich zu tragen, mich zu umfangen, um den einen Schritt zu verwehren. Der Wind wehte aus dem tiefen Einschnitt des Flusses. Er trug den Geruch des Wassers mit sich; ein Element, das Leben spendet. Meine langen Haare wurden immer wieder davon erfasst und verdeckten mein Gesicht, legten sich um meine Schultern, berührten meine Haut, berührten meine Tränen über den Tod meiner Eltern. Der Wind wollte spielen; er wollte mich zum Bleiben auffordern, zu einem Bleiben im Diesseits, um das Leben in all seiner Vielfalt auskosten zu können. Er wollte mein Innerstes berühren, als wäre er der zeitlose Wind der Ewigkeit, dem alles möglich ist.

Der Gedanke aus der Vergangenheit verflog und wie damals umkreisten meine Haare mein Gesicht; diesmal im Schein des Mondes und meiner Laterne. So sehr damals das Dunkle über dem hellen Tag stand, so zeigte sich heute das Helle in tiefschwarzer Nacht. Denn heute war es wieder soweit! Heute in den ersten Stunden des Jahres feierte ich ganz allein. Ich begrüßte die Sterne, den Mond, das Wasser und manchmal das Entenpaar, das am Steg im geschützten Schilf einen von mir in den Tagen meiner Kindheit erbauten Unterschlupf seit Jahren bewohnte. Der tief gelegene Steg, der gut zwanzig Meter in den See meiner Großeltern ragte, als halte er die Grenzen der unterschiedlichen Elemente fest in seiner Hand, führte mich. Seit drei Jahren gehörte mir dieses unglaubliche, verwunschene Grundstück genau am Mittelpunkt zwischen Nord- und Ostsee, denn niemand sonst aus meiner kleinen Familie überlebte die Wechsel der letzten Jahre. Die Letzten nahmen auf ihre Art und Weise Abschied, weil die Zeit gekommen war. Irgendwann würde auch ich gehen, doch nicht heute und auch nicht morgen. Denn heute war es soweit!

Glücklich stand ich am Ende des hölzernen Fußweges neben einer mich überragenden Glaslaterne, die ganz genau 365 Kerzenlichter in sich trug. Ihr Schein strahlte über den ganzen See hinweg, geschützt von hellem Glas des jungen Glasmachers aus dem Ort, der mir vor einigen Jahren wohl sein Meisterstück fertigte und die Geheimnisse des Glases in jeder einzelnen Facette wiederspiegeln ließ. Diese Laterne gab es nur hier, die Laterne des kommenden Jahres, die leicht bunte Farben über den Spiegel des Sees schickte und Zeichen setzte. Geheimnisvolle Zeichen, die der Glasmacher in jedem einzelnen kleinen Stück Glas einarbeitete, damit sie hinaus in die Welt gesandt werden konnten: Zeichen des Lebens, der Kraft, der Aufregung und Fülle. Denn das Leben sollte gefeiert werden mit allen Sinnen und immer und immer wieder, bis ich nicht mehr konnte und vielleicht irgendwann zur Morgendämmerung den Schlaf finden würde, wenn die Erschöpfung mich einfing und mein Schlafsack neben der Laterne schützend die Hand über mich legte.

Heute würde ich zum ersten Mal nicht die Grenzen meines Körpers erkunden müssen; mit meinem ersten verdienten Geld leistete ich mir endlich einen Neoprenanzug; eine Verbesserung der Superlative! Heute galt nicht nur der Wille, heute gab es den ultimativen Bonus des Nicht-Frierens!

Meine Laterne stand auf einer Drehscheibe, deren Ausrichtung ich jede Stunde veränderte, um das Verstreichen der Zeit als Halt zwischen den Welten empfinden zu können. Ein kurzer Blick auf meine bereitgelegte Uhr ließ die Vorfreude auf mein Zwerchfell drücken; sie machte ein wenig atemlos und prickelte auf der Haut. Die Hälfte der Lichter waren entzündet, eigentlich müsste es gleich zu sehen sein… L  Langsam setzte ich mich an den Rand des Steges und gewöhnte meine Füße an die Kälte. Die ersten Zeichen des Glasmachers berührten die sanften Wellen des nächtlichen Sees. I  Heute war ich verwöhnt, Neujahr mit 10 Grad °C in der Nacht, war normalerweise unvorstellbar! In anderen Jahren versperrte das Eis meine Sehnsucht, doch heute nicht! Kälte ließ sich mit dem Geist bis zu einem gewissen Grad ausklammern, ausklammern aus dem Leben, das ich spüren wollte, das nah an mich heran kommen sollte, damit es als solches immer wieder seinen Beginn nehmen konnte. E  Gegenüber, am dunklen Ufer des Sees stiegen hinter den Baumreihen immer noch vereinzelte Raketen in den Himmel. Gerade zersprang ein intensives Rot mit goldenen Spitzen im Wechsel mit silbrigen Explosionen, die in alle Himmelsrichtungen zerstoben. B  Sie spiegelten mein Empfinden, meine Freude, mein Gerade-Hier-Sein in dem Erwachen des neuen Jahres, das für mich spürbar seine ersten Stunden verschenkte. Ok, es ging los; noch im Sitzen zündete ich durch die geöffnete seitliche Tür der großen Laterne weitere Lichter an, die ihren Schein immer deutlicher über den See schickten. E  Die einzelnen Glasfensterchen besaßen unterschiedliche Schattierungen, unterschiedliche Stärken, unterschiedliche Farben; wenn es vollbracht sein würde, dann strahlte mein ganz eigener Leuchtturm der Orientierung für mich über den See meiner Kindheit, über den See meiner Jugend und über den See meines zukünftigen Seins.  D

Ich hatte immer noch nicht verstanden, wie das Prinzip der Laterne funktionierte und der Glasmacher wollte es mir nicht verraten. Warum erschienen die einzelnen Zeichen erst mit den unterschiedlichen Wärmegraden innerhalb der Laterne?  E  Ich sah den Glasmacher vor mir: Er war vielleicht zehn Jahre älter als ich, mit einem steten Lächeln beobachtete er mich in den letzten Jahren immer genauer und gestern kam er, um sein Werk und die Güte der Gläser zu überprüfen. Er tat dies, seitdem er mir die Laterne übergab und meinte, dass sie in meinen Händen ihr Werk erfüllen konnte;  I  Dinge würden ihren Sinn nur am richtigen Ort entfalten und der See wäre perfekt. Manchmal empfand ich sein Lächeln fast als unergründlich, er blickte mich an und sah tatsächlich. Gestern stand er gerade hier am Steg und blickte mit einem Becher heißen Kaffee auf das Wasser. Wir sprachen über heute Nacht;  N  Er kannte mein Geheimnis, weil ich nicht lügen kann und er mich schon im ersten Jahr fragte, welch besonderes Werk seine Lichter bei mir ausüben durften und was ich mit seinem Geschenk anfangen würde. Sein Zucken um die Mundwinkel zeigte mir genau, dass er mein innerliches Winden um die Wahrheit erkannte. Also erzählte ich es und bat um Verschwiegenheit, da meine Großeltern sonst vor Sorge mich nicht lassen würden.  L  Überrascht zog er die Augenbrauen hoch, lächelte und wünschte mir eine Menge Spaß. Er nahm mir natürlich tausend Versprechen über die Sicherheit ab; doch dabei blieb es dann auch. Gerade zersprang ein leuchtendes Grün über meinem Kopf. Aufgeregt stellte ich meine Füße auf den seicht beginnenden Boden des Sees und spürte den mit vielen kleinen Steinen versetzten, grobkörnigen Sand. Hier gab es nichts, worauf ich treten könnte, da ich das ganze Jahr über meinen See akribisch absuchte, damit nichts meine Freude in dieser besonderen Nacht nehmen könnte.  E  Die Kälte des Wassers erfasste mich, doch gleichzeitig genoss ich das Umschmeicheln des Elementes, das ich schon seit Ewigkeiten liebte. Der Anzug würde mir bestimmt mehr Zeit schenken! Ich stand da und bemerkte ein „doch“. Hmmm, das Ding war teuer und ich wollte ihn unbedingt haben, doch… Entschlossen stellte ich mich wieder auf den Steg neben die Laterne, öffnete den Reißverschluss und zog etwas angestrengt an der zweiten Haut, bis diese endlich auf dem Holz lag.  B  Zufrieden schaute ich auf meine Lichter, es waren nur noch wenige zu entzünden. Kurzentschlossen klickte ich mit meinem Feuerzeug und hielt die Flamme an die Dochte, schloss die Tür der Laterne und sog die kalte Luft tief ein. Prüfend strich ich über meine Haut, das Öl reichte noch. Bevor ich an den See gekommen war, hatte ich meine Haut mit tief glänzendem Öl umschlossen, das mich noch ein klein wenig mehr vor der Kälte schützen sollte. Meine Haare drehte ich zu einem Zopf und nahm die bereitliegende Klammer, um sie hochstecken zu können.  E

Es war soweit! Vorsichtig trat ich nun vom Steg herunter. Der erste Schritt war immer sehr kalt, der zweite noch kälter, der dritte ließ das Herz fast stocken, doch ich sah mein Ziel vor mir liegen: Die Laterne erhellte fast den gesamten See; Wellen tanzten mit den einzelnen Zeichen, verzerrten sie, spielten mit ihnen, zogen sie auseinander und schoben sie wieder zusammen.  N  Doch sie lagen nun deutlich vor mir und ich wollte es zelebrieren! Mit wenigen Schritten ließ ich mich ins Wasser gleiten und spürte das über meinen Schultern zusammenfließende Wasser; meine Zähne klapperten ein wenig beim Lächeln, ich würde die Zeichen umschwimmen! In diesem Moment hörte ich aus dem seitlichen Schilf ein Geräusch. Vor Schreck drehte ich kurz meinen Kopf in die Richtung. Ein anderer Mensch!

„Ich bin es! Keine Angst…“

Wenn meine Zähne nicht so geklappert hätten, dann hätte ich sogar geantwortet. Überrascht sah ich die vom Schwimmer auf mich zukommenden Wellen, bis er nur noch zwei Meter von mir entfernt ebenfalls die Richtung der Zeichen einschlug.

„In diesem Jahr wollte ich nicht nur auf Dich aufpassen…“.