Zäune sind zum Übersteigen da!

„Ich“ ist ein gefährliches Wort! Ein Wort, das so viel über eine Person aussagt, ohne überhaupt einen Satz von sich gegeben zu haben. Es bezeugt das Bewusstsein über eigene Gedanken, jedenfalls glauben wir das, und das Wahrnehmen, dass wir uns von anderen abgrenzen können, jedenfalls glauben wir das.

So sehen wir uns irgendwo stehen inmitten der brausenden Welt. Farben und Formen bewegen sich um uns herum, fügen sich in unsere Ecken und Kanten, oder nicht. Manchmal passen wir wie ein Puzzlestück mit ungewöhnlichen Seiten in das Weltgefüge, doch wie oft scheint sich nichts zu fügen. Nichts kann von außen an uns heran, nichts scheint unserem Gemüt auf irgendwelche Art und Weise das Gefühl vermitteln zu können, ein Teil eines Ganzen zu sein. Wir mögen nicht einmal die Hand ausstrecken, um das um uns herum Erscheinende in seiner Beschaffenheit zu erfassen.

Das Wort „Ich“ scheint in seiner Bedeutung gänzlich unterschätzt zu sein: Wir sprechen es ohne Argwohn aus. Schließlich bewegen wir uns mit dieser Abgrenzung in der Masse, die uns sonst zu verschlucken scheint. Ein „Ich“ als Selbstschutz? Ein Bis-hier-hin-und-nicht-weiter? Ein Bitte-tritt-nicht-in-meinen-Bereich? Möglicherweise ist es einfach etwas daher Gesagtes, um unserem Gegenüber lediglich die Information zu vermitteln, dass er es mit dem Gedanken einer einzelnen Person zu tun hat und diese Person direkt vor ihm steht?

Abgrenzungen sind gut und notwendig. Sie schützen uns vor Einflüssen, die wir nicht für gut heißen, sie schützen uns vor dem völligen Auflösen in der Unbill des Lebens, die uns andernfalls aufsaugt und auf alle Ewigkeiten wiederkäut. Doch müssen Abgrenzungen immer und zu jeder Zeit sein? Gibt es nicht gerade auch Situationen, die ein völliges Einlassen in eine Gruppe benötigt? Die deprimierende Antwort lautet: Alles ist richtig!

Also versuche ich (!) es einmal in der Wir-Form:

Wir stehen am Rande eines Fußballfeldes. Die Grasnarbe litt in der Mittagszeit unter der stechenden Sonne und nun am Nachmittag unter Stollenschuhen. Die trockene Erde gab bereits jegliche Hilferuf auf und ergibt sich nun den 22 umherlaufenden Spielern plus Schiedsrichter. Lautes Rufen hallt von den beiden Trainern der Mannschaften immer wieder durch die Luft, vermengt mit der Begeisterung der Zuschauer, die die Fahnen in den Vereinsfarben als energievolles Mittel zur mentalen Unterstützung durch die heiße Luft schwenken. Lassen wir mal Blaue gegen Rote spielen, um dem Beispiel ein wenig Farbe zu geben. Ich könnte auch Blaue und Braune wählen, das ist im Prinzip egal, doch es könnte der völlig abwegige Gedanke entstehen, ich würde die beiden Hamburger Mannschaften in meinem gedanklichen Experiment herumturnen lassen.

Fast alle Spieler haben sich in den letzten entscheidenden Minuten vor dem blauen Tor versammelt. Der rote Mittelstürmer sieht die Zwischenräume und rennt schon gedanklich durch alle hindurch. Aus Erfahrung weiß er, dass nach dem Passieren der ersten Lücke, die im Moment noch sichtbare zweite geschlossen sein wird; er wird also im entscheidenden Moment blitzschnell einen neuen Weg suchen müssen. Die Frage ist nun: Traut er sich das zu oder gibt er die Verantwortung an einen sich anbietenden Mannschaftskameraden ab, der dann für ihn die weitere Suche nach einer Lücke übernimmt? Dies wäre die eine Sichtweise. Mit einem anderen Blickwinkel betrachtet, traut sich der Spieler den Alleingang schon zu, weiß aber auch, dass sein Kumpel auf kurzen Distanzen viel besser und passgenauer spielen kann; es ist dann ein überlegtes Hand-in-Hand-Arbeiten; unterschiedliche Stärken werden innerhalb einer Gruppe genutzt. Aus einem „Ich“ wird ein „Wir“. Der Eine gibt einen Vorteil auf, damit ein Anderer die Situation zum Erfolg führen kann.

Leider bleibt es nicht bei diesen Varianten: Angenommen, der Spieler im Ballbesitz schätzt die Situation falsch ein und ein direkter Schuss von seinem Standpunkt aus, direkt auf das Tor, hätte nicht nur den Erfolg versprochen, sondern auch erzielt, wenn er nicht in seiner Unentschlossenheit gefangen wäre? Wer kennt nicht den Ruf: „So schieß doch, verdammt noch mal!“. Die Gruppe fällt über einen Einzelnen her, der eigentlich den Erfolg erst bis zu diesem Punkt brachte; absolut unfair! Das Bild einer reißenden Meute ist nicht weit. Die Gruppe erwartete einen Alleingang, ein Abgrenzen von den Anderen. Was in anderen Situationen als negativ bewertet wird, kann ebenso in dieser geradezu verlangt werden. Das ist nicht leicht zu verstehen!

Richtig kompliziert wird es, wenn dem Spieler genau diese Tatsache im entscheidenden Moment bewusst wird und er darüber völlig verunsichert ist. Ein Alleingang wird nur dann als gut von der Gruppe bewertet, wenn ein Erfolg zu verzeichnen ist, also der Sieg mit hoch erhobenen Händen gefeiert werden kann. Verschießt der bereits an sich zweifelnde Spieler, so ist der Alleingang sein sicheres Gruppengrab; er kann sich inklusive des Balls gleich wegschmeißen. Obwohl ein Alleingang eine Abgrenzung bedeutet, so ist sie es nicht, wenn eine mögliche Verurteilung durch die Gruppe bereits ihr teuflisches Werk in den eigenen Überlegungen begann, den Spieler dadurch verunsicherte und damit das Misslingen vorprogrammierte – sozusagen der Wolf im Schafspelz.

Was sagt uns das?

Fußball ist gefährlicher als wir denken!

 

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Anm. z. Titelbild: ©Frank Sänger