Dschungel

Als kleines Kind nehmen wir Dinge in die Hand, um sie besser zu verstehen. Als Erwachsener halten wir uns zurück, da wir es manchmal als unhöflich empfinden, dieses Interesse zu offensichtlich an den Tag zu legen – vielleicht auch, um nicht den Eindruck zu hinterlassen, dass der überlegene erwachsene Intellekt nicht aus der Ferne in der Lage wäre, die Sachlage voll und ganz zu durchschauen. Meiner Ansicht nach verschenken wir allerdings ein wertvolles Mittel der Erkenntnis, wenn wir auf eine nahe und direkte Untersuchung der Dinge verzichten. So suche ich das Ende eines Fadens und fange an, einen kleinen Ball zu rollen:

Völlig verschwitzt, zufrieden und schon eine Handbreit kurz vor dem Gefühl mit einer weiteren Rolle meinen Körper zu quälen, sitze ich wartend vor meinem Lehrer. Er blickt kurz auf die Uhr, nickt, klatscht in die Hände und sagt nur ein Wort: Randori.

Tief seufzend erhebe ich mich, um mir einen Uke für die nächsten zwei Minuten zu suchen. Kann das Gehirn überhaupt bei weit fortgeschrittener Erschöpfung irgendwelche vernünftigen Leistungen erbringen? Ich weiß, ich weiß, gerade dieses Bewusste, das eigene Können unbedingt dem Lehrer und den anderen offenbaren zu wollen, sollte in diesen Minuten überhaupt nicht zum Tragen kommen. Als Nage reagiere ich in einem Randori auf die entgegengebrachte Energie, um die gelernten Techniken spielerisch zu improvisieren. Doch wie peinlich ist die Tatsache, wenn mir außer Shiho-nage nichts mehr einfällt, naja, vielleicht noch ein Irimi-nage und dann wird’s eng, da die eigenen Gedanken immer lauter werden: Warum fällt mir überhaupt nichts mehr ein? Kann ich denn gar nichts? Sind zwei Minuten immer so lang? Ach ja, wo Irimi möglich ist, gibt‘s ja auch Tenkan. Schlagartig verdoppelt sich die Anzahl meiner Möglichkeiten, was sich im ersten Moment richtig gut anfühlt, doch im zweiten Moment bemerke ich, dass ein Tenkan trotz des Wissens um die Technik manchmal problematisch umzusetzen ist.

Meinen gedanklichen Faden kann ich mit einer groben Unterscheidung aufnehmen: Irimi als eine direkte, positive Ausführung einer Technik[1] und Tenkan als die ausweichende, abwartende Version[2]. Doch mitten im Randori ist mir die Unterscheidung ziemlich egal. Doch sollte es mir das wirklich sein? Kenjiro Yoshigasaki schrieb zum Prinzip des Irimi, dass die aufeinandertreffenden Aikidoka einen Punkt erzeugten, also fixiert seien, weil beider Kräfte gleich groß sein könnten und sich nicht veränderten. Diese Überlegung entstammt dem Schwertkampf der Samurais. Wenn mich jemand mit dem Schwert angreift, dann darf ich es nicht stoppen und einen Kontaktpunkt herstellen; das Gegenteil ist gefragt: Ich gehe ein Schritt auf den Gegner zu und schneide ihn, ohne dass sein Schwert mich berührt. Da aber in der Regel die Schwerter gleichlang waren, kämen in der gleichzeitigen Ausführung beide zu Tode. So ging es darum den kleinen Moment davor zu finden und zu nutzen[3]. Ein Irimi halt!

Kommt also mein Uke auf mich zugestürmt – oder idealerweise mit langsam gesetzten Schritten, damit ich überhaupt eine Chance habe – dann treffen unsere Vorderseiten aufeinander, im ersten Moment ein Indiz für den Nage, um einen Irimi auszuführen. R. M. J. Atkinson[4] unterscheidet hier zusätzlich die Aktion des Uke im Heranstürmen: Greift er mein Handgelenk und zieht, gibt es einen Irimi, schiebt er hingegen, so ist ein Tenkan vonnöten. Es ist immer ein Sich-Einstellen auf den gegebenen Impuls. Die Fußstellung ist ebenso wichtig: Ein Ziehen Ukes in Ai-hanmi löst eine Irimi-Ausführung und das Schieben in Gyaku-hanmi einen Tenkan aus wie umgekehrt.

Die Zuspitzung ist dann die Ausgangsstellung in Shizen-hontai, eine parallele Fußstellung, die erst durch einen Vorwärts- oder Rückwärtsschritt den Weg in die vorherige Erklärung weist. Das ist absolut verwirrend und überhaupt nicht zu merken, wenn ich im Randori auf der Matte stehe.

Doch spielt nicht nur das Räumliche eine Rolle, sondern auch die Zeit: Kann Nage vor dem Kontakt mit Uke reagieren, so ist wieder ein Irimi günstig, sitzt der schraubstockartige Griff bereits an meinem dünnen Handgelenk, dann ist ein Tenkan die bessere Wahl. Es lässt sich auch sagen, dass Nage meistens den Anstoß für einen Irimi gibt und Uke meistens für einen Tenkan; es ist eine Frage des Blickwinkels. Als Spitze des Eisberges bleibt dann noch die Überlegung, dass manche Techniken eine bestimmte Fußstellung benötigen. So kann die Fußstellung die Technik vorgeben oder die angestrebte Technik die Fußstellung.

Möglichkeiten mit all ihren Facetten wirbeln durch meinen Kopf; kann sich diese irgendjemand irgendwann merken? Mein lächelnder Trainingspartner kommt auf mich zu, fängt damit meine Aufmerksamkeit und wischt all meine Überlegungen mit gezielten Bewegungen aus meinem Bewusstsein. Wenn die Gedanken aufhören, dann übernimmt mein Körper; schließlich sind Körper und Geist ein eingespieltes Team seit meiner Geburt.

Warum vertraue ich nicht einfach?

 

 

_____

Worterklärungen:
Randori:              freies Training, um das Gelernte schnell und spielerisch anzuwenden
Uke:                      Angreifender Trainingspartner
Nage:                   Technik-Ausführender
Shiho-nage:       Technik-Bezeichnung
Irimi-nage:        Technik-Bezeichnung
Irimi/Tenkan:    Verschiedene Möglichkeiten eine Technik auszuführen
Ai-hanmi:           Beginnende Fußstellung; beide Partner haben z.B. den rechten Fuß vorn
Gyaku-hanmi:   Beg. Fußstellung; spiegelverkehrt: der Eine z.B. Rechts vorn u. der andere Links
Shizen-hontai:  Beg. Fußstellung; die eigenen Füße stehen jeweils parallel

 

[1] B. Oettinger, T. Oettinger, Ki, Lebenskraft durch Bewegung, Schorndorf, 2004, 107.
[2] B. Oettinger, T. Oettinger, Ki, Lebenskraft durch Bewegung, Schorndorf, 2004, 107.
[3] Kenjiro Yoshigasaki, Aikido, Kunst und Lebensweg, Heidelberg, 2015, 332.
[4] R. M. J. Atkinson, Discovering Aikido: Principles for Practical Learning
http://discovering-aikido.com/contents.htm, abgerufen am 27.12.2017.