Am seidenen Faden

Viel zu spät und trotzdem haben wir noch Plätze bekommen! Erleichtert setzte ich mich auf die mit schmalen roten Kissen belegten Holzstühle. Für jeden Platznehmenden lag ein dünnes Heftchen darauf. Ein kritischer Blick ließ das Büchlein vom letzten Jahr erkennen. Warum sollten sie auch noch neue drucken? Der Inhalt blieb wahrscheinlich noch über Generationen hinweg aktuell… auch wenn dann diese einfachen Blättchen schon lange zu Staub zerfallen sein würden. Unsere Kirche ist keine Besonderheit: irgendwann in den Achtzigerjahren entstanden, als sich jeder von den alten Bauweisen trennen wollte. Wie sehr wünschte ich mir zum unzähligen Male eine uralte Version aus dem 17. Jahrhundert, auch, wenn ich im Winter hinter den meterdicken Mauern frieren würde, ich wäre von der ehrwürdigen Ausstrahlung begeistert. Doch heute musste für mich dieses junge Exemplar mit einem stilisierten Kreuz, Leuchten aus Draht mit unromantischen Glühbirnen und bunten Fenstern ausreichen. IHM wäre es egal gewesen, doch er war vermutlich kein solcher Romantiker, wie ich es bin, er bevorzugte eine schlichte Ausführung.

So saß ich nun seitwärts zu den Kirchenbänken, die sich gegenüber dem Altar hintereinander reihten und bereits vollständig besetzt worden waren. In zehn Minuten würde es soweit sein. Zufrieden, es noch alles rechtzeitig hierher geschafft zu haben, zupfte ich an meiner Bluse herum und verpasste dem jungen Mann an meiner linken Seite einen strafenden Blick, da er wohl ungewohnt ohne Computer vor seiner Nase und ohne weitere Ablenkung still sitzen musste. Solch ein junger Körper ist das gar nicht mehr gewohnt: Ruhe zu finden und diese auch zu genießen, einfach still dazusitzen, den Schwerpunkt sacken zu lassen, um sich wie ein Fels zu fühlen, der von niemandem bewegt werden könnte. Der Jungspund hibbelte mit seinem Knie, damit sich überhaupt irgendetwas tat, wahrscheinlich wäre er sonst explodiert. Vielleicht war es auch die Angst vor der nächsten Stunde der puren Langweile für strafversetzte Computernerds, die keinen Stromanschluss fanden. Der Stuhl auf meiner rechten Seite blieb frei. Es fehlten noch fünf Minuten bis zum Gottesdienst. Das war genug Zeit, um sich die Menschen um mich herum anzusehen. Nichts blieb meinem forschenden Auge verborgen, jede Kleinigkeit nahmen meine Gedanken grob in die Hand und bemerkten Passendes sowie Unpassendes. Wie viele Personen waren hier, weil sie es wirklich aus freien Stücken wollten? Wem oblag die echte Entscheidungsfindung ohne Zwang, ohne ein Gefühl des Gedrängtseins, ohne ein Wir-haben-das-immer-schon-so-gemacht, ohne ein Es-gehört-ja-schließlich-dazu? Für mich gab es darauf noch keine Antwort; vielleicht war es etwas von allem oder vielleicht war es wirklicher Glaube, der heutzutage so völlig aus der Mode geraten war? Wer weiß das schon.

Genauestens unterteilte ich das Publikum in bekannte und unbekannte Gesichter: Ach ja, meine Nachbarn hatten sich wohl frühzeitig auf den Weg gemacht; sie saßen in der Mitte des Raumes. Nah genug, um ohne Brille die Vikarin erkennen zu können und weit genug entfernt, um in der Menge unerkannt und vor allem unbelästigt die eine Stunde verbringen zu können. Traditionellerweise blieben die ersten beiden Reihen frei; niemand wollte sich den prüfenden Blicken aller ausliefern. Schließlich war es Heiligabend und nicht ein wahnsinnig wichtiges Einstellungsgespräch mit einem Personalleiter, der für die Beurteilung deiner Person auch sehr wohl deine Kleidung betrachtet. Nun, ich verzichtete auf die gute Sicht und saß deshalb ganz zufrieden im Seitenflügel als kaum Wahrgenommene.

Drei Sitze rechts von mir saß eine kleine Familie mit einem vielleicht drei Jahre alten blonden Jungen in Jeans, kariertem Hemd und vermutlich noch ausgepolstertem Hinterteil, der bereits unvorstellbarer Weise mindestens eine Minute ganz ruhig auf dem Schoss seiner Mutter saß und selbst alle Menschen um ihn herum betrachtete. Ein Holzfäller in Miniaturformat mit einem fordernden Gesicht und neugierigen Augen. Er wird mit Sicherheit eine Herausforderung für die Frauenwelt in den nächsten zwanzig Jahren darstellen. Doch noch lag sein Schnuller sicherheitshalber auf der Handtasche seiner Mutter, um Laute des Unmuts im Keime ersticken zu können. Völlig fasziniert schaute ich seinem Treiben zu, als ich ohne es begründen zu können, meinen Blick hob und in die Augen eines anderen prüfenden Beobachters schaute. Keine fünf Meter weiter in den beginnenden Kirchenstuhlreihen saß ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, ebenfalls auf dem Schoß ihrer Mutter und betrachtete ebenso. Sie betrachtete nicht den kleinen Jungen, sie betrachtete mich! Erschrocken ob meines erhobenen Blickes senkte sie ihren, um nicht mit meiner Aufmerksamkeit konfrontiert zu werden. Immer frei nach dem Motto: Wenn ich nicht sehe, kann ich auch nicht gesehen werden. Sie besaß noch den seligen Zustand des festen Glaubens an die eigene Lenkbarkeit der umgebenen Welt.

Warum schaute sie mich an? Prüfend blickte ich an meiner Kleidung herunter. Ich trug nichts Besonderes: Bluse und Hose, hochgesteckte Haare – ziemlich normal und passend für die Umgebung. Ganz die Erwachsene lächelte ich sie an. Normalerweise ist ein Lächeln kaum widerstehbar. Wer lächelt nicht automatisch zurück? Dieses Mädchen schien jedoch anders zu sein. Vielleicht beobachtete sie selber lieber, als das Gefühl zu bekommen, das Opfer einer Beobachtung zu sein? Das war mir schließlich nicht fremd. Also schwenkte ich meinen Blick zur anderen Seite, um sie nicht unangenehm zu berühren. Der kleine Junge schritt mittlerweile durch die Stuhlreihen und prüfte vorsichtig, ob sich die Blätter der Liederhefte irgendwie auseinanderziehen ließen. Sein Blick zur Mutter ließ ihn in der Gewissheit, unbeobachtet etwas für seine Bildung zu tun: Wann reißt Papier?

Die Flöten begangen mit dem ersten Lied und forderten damit die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Mein Interesse hatten sie; die hohe Flöte bewies ihre Übung, die Altflöte leider nicht; keine Frage wer meinen Fokus mit beiden Händen erhielt.

„Oh, Du fröhliche…“ ist ein guter Beginn für etwas Schönes in der Gemeinschaft, etwas mit Einstimmungscharakter. Strafend wurde ich von links angestupst: Der mich begleitende Jungspund empfand es als absolut unpassend, so laut und so falsch seinen Beitrag zum Chor zu leisten. Die Umgebung könnte eine familiäre Bindung vermuten lassen, die zwar der Realität entsprach, doch nicht unbedingt geoutet werden müsste, wenn Klassenkameradinnen drei Stuhlreihen weiter saßen. Innerlich seufzend reduzierte ich meinen Lautstärkepegel und ließ meinen Blick wieder zum kleinen Mädchen gleiten. Unglaublicherweise fixierte sie mich noch immer. Wie konnte ein kleines Mädchen ohne Beschäftigung, ohne Ablenkung und ohne diese innere Unruhe, die ich im Vollkontakt von meiner linken Seite 1 zu 1 dargeboten bekam, so ruhig bei ihrer Mutter sitzen? Jede Generation ist die Weiterentwicklung der vorherigen. Vielleicht lag die Neueste und somit auch am weitesten entwickelte gerade in meinem Blickfeld: kleine Kinder mit der Erkenntnis von Alten, mit der Klugheit und einer simplen Übersicht, die uns Erwachsene so manches Mal staunen lässt. Es ist nicht einfach, damit konfrontiert zu werden, doch es ist gut und richtig so! Das ist eine Evolution mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit!

„Ihr Kinderlein kommt…“ Genau! Ich versuchte mein Bestes und lächelte, was das Zeug hielt, in die Richtung der Kirchenbänke. Irgendwann müssen doch auch ihre Spiegelneuronen darauf anspringen! Keine Chance! Ihr Starren blieb, immer wieder mit dem Senken des Kopfes verbunden, um meinem Blick ausweichen zu können. Begeistert trällerte der kleine Junge das ihm bereits bekannte Lied und fragte seine Mutter lauthals, warum wir nicht noch ein wenig mehr sangen; der Moment des Schnullers war gekommen und ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Strafende Blicke von meiner linken Seite hätten mich am liebsten pulverisiert, doch als gelassene Alt-Mutter stand ich darüber und brachte mit meinem daraufhin noch lauteren Lachen meinen Spross fast zum Wahnsinn. Das nächste Jahr dürfte ich vermutlich ohne ihn zur Kirche gehen… Grinsend blickte ich wieder auf meinen Liedtext.

„Lasst uns froh und munter sein…“ Wie passend! Ich hatte mein Vergnügen, keine Frage. Die Vikarin versuchte etwas Neues und verband ihre Predigt mit der Weihnachtsgeschichte, die der Diakon passenderweise abwechselnd zu ihrem Text vorlas; damals und heute, Weihnachten auf dem Prüfstand. Ist es das nicht jedes Jahr mit den riesigen Gegensätzen? Wer bekommt das Super-Computerspiel und wer sollte sich einen Ofen anschaffen, da die in den Garten gekippte Kohle sonst die Fenster eindrückte? Wer konnte am Heiligabend ganz locker alle Programme mit den dahinschmelzenden Disney-Filmen genießen und wer stimmte in Gedanken der Prohibition in Schleswig-Holstein zu und arbeitete hart an der Vernichtung all der eigen zu nennenden Alkoholvorräte? Wer ließ das Lachen über die bunt-gescheckten und total coolen selbstgestrickten Zehen-Strümpfe von Oma heraus, damit die Gute trotz des fehlenden Hörgerätes die Freude mitbekam und wer schob sein Geschenk mit dem Fuß unter das Sofa, da es den eigenen Ansprüchen nicht genügte? Wer sang mit tiefster Inbrunst lauthals Karaoke bis der Nachbar an den Wänden seinen Unmut deutlich werden ließ und wer stand den Tränen nah, da niemand anrief?

Mit Sicherheit konnte keiner alles Leid der Welt mit einer schützenden Hand hinwegfegen, dafür waren wir zu viele. Doch was sprach gegen einen klitzekleinen Anfang, irgendwo und irgendwann? Selbst wenn wir immer wieder mit einem Lächeln beginnen, da uns eine Tat viel zu riesig erscheint, so ist dieses Bemühen mehr wert als jegliche Ignoranz. Beginnen ist gut!

Beim dicht gedrängten Hinausgehen stellte ich mich an die Seite, um meine Jacke schließen zu können. Gerade in diesem Moment ging das kleine Mädchen mit ihrer Mutter an mir vorbei. Bevor ich meine Überlegungen irgendwie in eine Tat umsetzen konnte, löste diese Vertreterin der neuen Generation ihre Hand von der Mutter und stellte sich mit einem fragenden Blick vor mich.

„Nimmst Du sie jetzt mit nach Hause?“ Völlig überrascht, wusste ich keine Antwort auf ihre Frage. Hilflos schaute ich zu der Mutter, die auch nur mit den Schultern zucken konnte. Etwas ungeduldig zupfte nun das Mädchen an meiner Hand, um meine Aufmerksamkeit zu erhalten.

„Wenn Du dich beeilst, dann friert sie auch nicht in deinem Haar. Die hat ganz schön lang gebraucht, bis der Faden von der Lampe lang genug war… Ich mag dich. Ich pass´ auch immer auf unsere Spinnen auf.“