Darüber hinaus

Alle haben ihn für verrückt erklärt, alle ließen ihre Schätze schon in der Garage den verdienten Traum vom nächsten Sommer genießen, doch er war anders. Die klare Luft der Vorweihnachtszeit ließ Atemwolken entstehen; tiefes Einatmen brachte die Vorfreude nur noch intensiver an die Oberfläche. Perfekt wäre das Stechen der Kälte, doch das käme noch von ganz allein. Vorsichtig rutschte Halen den Asphalt entlang. Naja, es ging noch. Die Straße zum Nachbarort würde nicht einfach werden mit der tiefen Lage zu den Gräben; hier zählte Erfahrung, die ich eindeutig habe, lächelte er in sich hinein, während er die Garagentür öffnete. Ein Quietschen zog sich die Straße entlang. Mann! Schon wieder vergessen! Meine Nachbarin bringt mich um! Tausendmal versprach er ihr, endlich der Tür etwas Kriechöl in die Angeln zu sprühen. Sie war ja eine echt Süße und vielleicht mochte er sie auch ein klein wenig mehr als alle anderen Nachbarinnen, doch musste sie derart empfindsam sein? Nickend versprach er sich selbst, sie endlich mal zu einem Umtrunk einzuladen, doch irgendwie kam immer etwas dazwischen. Ein Blick auf die Uhr brachte noch mehr schlechtes Gewissen: Fünf Uhr in der Früh ist doch nicht soooo früh, oder?

Die goldgelbe Farbe am Tank glänzte im Licht der Deckenleuchte. Mit schnellen Bewegungen schob er seine Maschine ins Freie. Ein zufriedenes Lächeln ließ die unrasierten Wangen an der Polsterung im Helm kratzen; mit routinierten Griffen stopfte er das Halstuch noch in alle Ecken des Helmes, damit während der Fahrt keine Stelle frei blieb, an der unweigerlich gefühlte Frostflecken entstehen würden. Mit dem Aufsitzen knirschte das Leder der Jacke, die ganz neu war und noch nicht die Geschmeidigkeit von lang getragenem Leder besaß. Halen klappte den Ständer seitlich mit einem Plopp zurück und startete den Motor mit einem satten Sound. Das Vibrieren des Metalls erhöhte unweigerlich den Puls – einfach so, einfach schön. Es war kalt, aber trocken und niemand war zu sehen. Die Häuser blieben noch im Dunkel der Nacht, eine Stunde später wäre es anders.

Dreißig Sekunden nach Verlassen der Garage verschwand das Ortsschild hinter der letzten Biegung und die Straße schenkte all ihre Aufmerksamkeit dem ganz allein fahrenden Frühaufsteher, der sich gar nicht alleine fühlte; die mittlerweile warm gelaufene Maschine stimmte auf ihre Weise zu. Langsam gab Halen mit seinem rechten Handgelenk Gas, zog mit der linken Hand den Hebel für den Leerlauf zu sich und schaltete den nächsten Gang mit seinem Fuß um. Immer noch verursachte dieser Moment einen tiefen Druck im Zwerchfell. Es war in seiner ersten Fahrstunde so gewesen und in den folgenden Jahren so geblieben. Er genoss es.

Noch dunkle Baumreihen zogen an der Einheit aus Mensch und Maschine vorbei. Lediglich der Lichtkegel des Scheinwerfers beleuchtete die sich windende Winterstraße und zeigte dem Fahrer, ob ein verräterisches Glitzern die Gefahr prophezeite. Auf den nächsten fünf Kilometern würde sich der Asphalt immer wieder winden wie eine Schlange im Fokus des Lichtscheins. Vorsichtig legte sich Halen auf die rechte Seite, um mit dem eigenen Gewicht die Maschine in die richtige Lage zu bringen, die sie für die Kurve brauchte. Die Körperbewegungen waren nur minimal und trotzdem etwas, was er mit bewusstem Genuss ausübte. Dabei spürte er die unter die Brille kriechende Kälte des Fahrtwindes. Mit der nächsten Biegung und einem Verschieben zur linken Seite begann der Rhythmus dieser besonderen Strecke. Es gab keine Gedanken mehr, es gab kein Achtgeben, es gab nur noch das gleichmäßige Gleiten von der einen zur anderen Seite. Als junger Mann überstieg er seine Grenzen, um den innewohnenden Reiz zu erkunden; er landete mit geschlossenen Augen im Graben, bezahlte über 3000 Euro für eine Reparatur der heißgeliebten Maschine und hakte die Erfahrung als getan ab. Heute würde er es nicht mehr wagen, schließlich wuchs der Mensch mit den getesteten Versuchungen. Immer wieder erfasste der Lichtkegel eine neue Rundung der Straße.

Ohne Vorbereitung, ohne irgendwelche vorherigen Anzeichen, entriss ein völlig neues Bild den sich fast in Trance befindlichen Fahrer aus seiner Welt. Das abrupte Abbremsen war nichts Ungewöhnliches, doch mit einem Bremsraum von lediglich zehn, fünfzehn Metern blieben nur das Ausweichen in die Baumreihe oder Vollkontakt mit der mitten auf der Straße stehenden, winkenden Person.

Der nächste Gedanke, an den sich Halen erinnerte, waren schmerzenden Muskeln, Gelenke, die einer Überdehnung ausgeliefert waren und irgendein auf seinem Brustkorb liegendes Gewicht. Bevor er seine Augen öffnete, hörte er in seinen Körper hinein. Irgendwas gebrochen? Nein, scheint ok. Irgendwas nicht mehr da? Doch, alle Glieder schienen sich noch an ihrem angestammten Platz zu befinden. Langsam blinzelte er durch das Visier. Dunkel. Klar, war ja auch noch Nacht. Vorsichtig tastete er nach dem Gewicht auf seiner Brust. Ein großer Ast, wohl von den am Straßenrand stehenden Bäumen, lag quer über seinem Oberkörper. Das Ding musste ihn wohl voll erwischt haben oder er den Baum. Der nächste Gedanke ließ ihn fast in Panik geraten. Da war doch ein Mensch! Mit Kraft und Mühe zerrte Halen an dem schweren Ast. Das Zippen eines Feuerzeugs und der anschließende Lichtschein ließen ihn nach links schauen. Eine Armeslänge entfernt saß eine Frau in dunkler, lederner Motorrad-Kleidung mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem besagten Ast und zündete sich gerade Zigarette an. Sprachlos starrte Halen sie an. Der Schein erlosch und der Geruch von Zigarettenrauch drang in seinen Helm. Das kann jetzt grad nicht sein, oder?

„Na, willste ein bisschen Licht, Jung?“

Halen krächzte nur ein „Ja“, da er gerade wie betäubt die Erinnerung in seinem Gehirn betrachtete. Langsam erhellte es sich um sie beide herum. Halen war völlig schleierhaft, woher das Licht kam, doch jetzt sah er seine Erinnerung bestätigt: Da saß tatsächlich eine kleine schlanke und wohl schon ältere…

„Du kannst ruhig „alt“ sagen. Das ist in Ordnung. Bin ich ja auch.“

Sein Hals wurde trocken. Noch immer starrte er diese Frau an. Ihre langen weißen Haare hatte sie mit einem seitlichen Zopf, der ihr bis zur Hüfte ging, zusammengebunden. Das Gesicht schätzte er vielleicht auf 60 Jahre, oder so, wobei die Frau trotz der ausgeprägten Lachfältchen ziemlich jugendlich aussah, irgendwie alt und jung zugleich. Völlig irritierend empfand er die Tatsache, dass sie seelenruhig auf dem Ast saß und überhaupt keine Anstalten machte, ihn aus seiner misslichen Lage zu befreien.

Ächzend versuchte Halen sich aufzurichten, doch das Gewicht des dicken Astes mit der darauf sitzenden Frau war wohl ein wenig zu viel. „Mensch, können Sie mir nicht mal helfen?“

„Nö.“

„Was? Äh…“

Völlig ruhig an der Zigarette ziehend betrachtete ihn die Frau von oben herab. „Bevor Du dich richtig aufregst, hör mir zu.“

Nach einigem Hin- und Herruckeln bemerkte Halen die Aussichtslosigkeit seiner Situation und ließ sich – ohne die Frau aus den Augen zu verlieren – wieder nach hinten sinken.

„Denkst Du eigentlich manchmal über Dein Leben nach? Ich meine mehr als zehn Sekunden… es gibt nichts Festgeschriebenes oder in Stein Gemeißeltes, was mit Dir geschehen wird, doch…“, sie zog wieder an der Zigarette und schaute ins schwarze Nichts über Halen hinweg. „…doch lässt sich aus Leben wirklich mehr machen als das hier…“ Etwas dubios zeigte sie mit ihrer Zigarette auf Halens Körper.

„Na hör mal, so schlecht seh ich nicht aus…“

Die Frau lächelte. „Stimmt. Und was machst Du damit? Du lässt Dich einfach treiben!“ Vorwurfsvoll blitzte ihn die Frau an. „Versuchst sogar menschliche Grenzen zu übersteigen und merkst nicht einmal, wie blödsinnig das ist!“ Halen kam sein Unfall wegen der geschlossenen Augen in den Sinn. Naja ist ja auch schon länger her. Jetzt war er vernünftiger.

„Ach ja? Und wer fährt mitten im Dezember auf glatten Straßen?“ Triumphierend pustete sie Rauch in die Luft.

„Mal zur Erläuterung: Die Welt ist voll von Angeboten, sozusagen ein riesiger Supermarkt mit ganz tollen Schnäppchen, und es liegt in Deiner Hand, das Richtige in den Einkaufswagen zu legen.“ Die Frau beugte sich etwas nach vorn und fixierte den am Boden Liegenden mit einem fast handgreiflichen Blick. „Und was legst Du da rein? Ich seh nur Diät-Margarine und Weißbrot ohne Rinde!“

„Äh…“ Halen fühlte sich völlig erschlagen und unfähig, irgendetwas Vernünftiges zu dem Gesagten beizutragen.

Die Raucherin kicherte: „Ach Mensch, ich hab das zweiblättrige Klopapier vergessen!“

Langsam regte sich bei Halen Unmut. Sehr witzig.

Sich amüsierend hielt die Frau die freie Hand hoch: „Ok, ich hatte meinen Spaß. Nun mal ernsthaft: Ich meine die Dinge, die Dir täglich widerfahren: Menschen, die Dir begegnen und ihre Worte an Dich; Wünsche, die sich in Deinem Inneren entwickeln und Dich zum Träumen veranlassen; Orte, die Dich mit Sehnsucht berühren und die Du am liebsten festhalten wolltest oder dieses wunderbare Gefühl, wenn Du deine besonderen Gaben endlich einmal in die Hand nimmst und auch benutzt. Was glaubst Du? Das sind Tore! Tore, für ein aufregendes Leben, das Dich nicht nur verändert, sondern wirklich bereichert! Sagt Dir so etwas überhaupt nichts? Wie gnadenlos beschränkt muss man sein!“ Kopfschüttelnd zog sie wieder an der Zigarette.

Halen war wütend. Die Frau würde ihn hier auf dem kalten Boden verrotten lassen, nur um sich in ihren Monologen zu sonnen. „Bekomm ich hier eine Gardinenpredigt? Wie wär‘s mal mit Helfen?“

Irritiert nahm die Frau ihre Zigarette aus dem Mund: „Mach ich doch! Wie soll ich Dir das denn sonst beibringen? Im normalen Leben hörst Du mir ja kein Stück zu!“

Erschöpfung überkam Halen. Er wusste nicht mehr weiter. Die Frau betrachtete ihn und ihre Gesichtszüge wurden weich. Sie schnipste ihre restliche Zigarette zur Seite und fixierte ihn: „Mein lieber Halen, ich bin immer da und gebe Dir jetzt mal einen wirklich deutlichen Hinweis, mach was draus!“

Das diffuse Licht erlosch und die Dunkelheit umschloss den am Boden Liegenden erneut. Ein durchdringendes Quietschen drang an Halens Ohren; wenn er es nicht besser gewusst hätte, dann hätte er geglaubt, es wäre seine Garagentür.

 

 

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Anm. z. Titelbild: ©Helmut Joachim