Heute war es anders. Heute summte der Raum mit einem geschäftigen Treiben der anderen Art, mit einer Erwartung auf etwas Besonderes. Die einen legten die Matten aus, andere schmückten den Raum mit viel Sorgfalt und wieder andere testeten die besten Lichtverhältnisse; es sollte lediglich genug Licht für das schemenhafte Erkennen geben, mehr nicht. Licht um einen Anhaltspunkt zu erhalten, mehr nicht. Heute manipulierten wir unsere Sinne, um die Schranken des Bewusstseins ein klein wenig zu lösen. Wir wollten uns einschränken, um zu gewinnen; wir wollten unsere Wahrnehmung begrenzen, um etwas Neuem den Raum zu geben, den es für die Entfaltung benötigte.
Die Deckenlichter verloschen. Dunkelheit legte sich über die Mattenfläche, die vom einen zum nächsten Moment immer stärker von den am Boden stehenden Kerzen beschienen und in ein warmes Halbdunkel verwandelt wurde. Die Atmosphäre des Raumes trat in den Vordergrund und der Moment des Schweigens begann. Im Seiza sitzend verlor sich die Aufregung, die sich noch vor wenigen Minuten aller bemächtigt hatte. Wir ließen den Tag mit seinen Aufgaben hinter uns, indem wir unsere Augen schlossen, den Puls verlangsamten und dem Geist lediglich erlaubten, die Tatsache des Hier-Verweilens zu genießen. Ein Klatschen öffnete unsere Augen, die die Umstellung auf ein Halbdunkel nun erfolgreich gemeistert hatten und unsere Gegenüber erkennen ließen.
Sobald einer unserer Sinne nicht mehr oder nur eingeschränkt genutzt werden kann, ergänzen wir das Fehlen mit anderen, wir verstärken ihre eigentliche Aufgabe. Allein dies verändert uns, indem wir die Aufmerksamkeit bewusster lenken. So standen wir unserem Trainingspartner gegenüber und verließen uns nicht mehr nur auf das Sehen oder Erklärtbekommen, sondern zogen ganz unbewusst weitere Hilfsmittel heran: Das sensitive Erfassen des Anderen stand im Vordergrund; wie dies geschah oder woher unsere Körper diese Erkenntnis bezogen, konnte wohl kaum jemand sagen. Vielleicht ist dies auch nicht wichtig. Als wichtig erkannten wir in dem Moment das Bündeln unserer Aufmerksamkeit, die durch die im Raum befindliche Ruhe ihre Unterstützung fand. Wir gaben eine selbst verursachte Trennung zu den uns Umgebenden auf. Führte Nage den Impuls seines Gegenübers sachte in den Ude-Osae Tenkan, dann leistete er den aufbauenden Energieströmen Folge, die unsere Bewegungen in diesem Moment aus dem Nichts entstehen ließen; Menschen fühlten sich getragen im Miteinander und schufen damit Neues. Spiralen zogen durch den Raum des Halbdunkels.
So sehr die Umgebung das tragende Gefühl vermittelte, so blieb es nicht jedem erspart, hart an sich arbeiten zu müssen, ein Loslassen nicht nur zu wollen, sondern auch wirklich zuzulassen. Das Loslassen verbinden wir mit dem Verlust von Kontrolle und erfahren nur zu oft, dass gerade erst das Vertrauen in das Gegenteil uns die Bereicherung schenkt. Wenn ein Anfänger Ushiro-Ukemi zu meistern hat, so liegt der Erfolg darin begründet, nicht zu zaghaft einen Beginn zu suchen. Erst die Erkenntnis, dass ein völliges Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten mit einem bewusst ausgeführten Schwung der Arme den erhofften Erfolg verspricht, lässt uns lernen; körperliche Schmerzen zeigen den falsch eingeschlagenen Weg, der eine klare Lernerfahrung offenbart.
Im schweigenden Kerzenlicht ist dies anders. Hier stehen wir vor unserem Trainingspartner, rekapitulieren die Übung in unserem Geiste und können sie vielleicht nicht umsetzen. Normalerweise würde ein hilfesuchender Blick zu einem Erfahreneren das Problem lösen, doch scheint dieser Weg im Moment des Kaum-Sehen-Könnens nicht verfügbar. Gute Lehrer wissen jedoch um die Facetten des Lernens und lassen nichts unbeobachtet. Sie reagieren mit einem neuen Weg: So zeigten drei ausgestreckte Finger eine Bitte um Neugruppierung an, damit Nage in einem schnelleren Takt auf einen Impuls reagieren musste. Schnelles Ausführen reduzierte den Gedankenspielraum; intuitives Bewegen übernahm die Regie; war die Bewegung einmal erfasst, erfolgte sogleich die Rückkopplung der als einfach empfundenen Umsetzung. Auf diese Art und Weise zu einem schnelleren Reagieren herausgefordert, wunderte sich Nage das eine oder andere Mal, warum das ursprüngliche Problem überhaupt als solches empfunden wurde; plötzlich erschien der ausgeführte Weg als der einzig sinnvolle.
Schnell bewegende Aikidokas zeichneten flackernde Schatten auf die Wände, die die Atmosphäre in ihrer Besonderheit deutlich werden ließen. Ein Klatschen kündigte das Ende des Wirbelns an. Die Innehaltenden hörten ihren eigenen Atem, der sich kaum zu beruhigen vermochte. Wohl überlegt rundete deshalb unser Lehrer mit Sotaiho die Trainingseinheit ab. Es ist eine Methode, auf den Körper eines anderen mit Dehnung, Beugung und manchmal auch Verdrehung von Muskeln und Gelenken einzuwirken. Für den derart „Behandelten“ war es eine Wohltat; der Rhythmus des Atems beruhigte sich und jegliche Spannung schien dem Körper entnommen zu werden. Es war auch ein tatkräftiges „Danke schön“ für das Gegenüber, ein „Es war ein wundervoller Abend“ und auch ein tief empfundenes „Wir-Gefühl“ innerhalb unserer Gruppe.
Lässt sich ein Abend noch schöner verbringen?
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Anm. z. Text: Erschienen im Aikido-Journal 94/DE 2/2018