Jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen, wann er oder sie eine andere Person attraktiv findet. Diese Vorstellung kann sich stündlich, sogar sekündlich ändern ohne, dass wir überhaupt einen Gedanken daran verschwenden. Manchmal sind wir selbst überrascht, warum sich ein solcher Gedanke in unserem Kopf einnistet. Manchmal sind wir nicht nur überrascht, sondern runzeln unsere Augenbrauen über diese Empfindung, ohne uns darüber bewusst zu sein, dass ein konkretes Wollen nicht der Anfang dieser Geschichte war. Verwirrung entsteht über das eigene Ich, über die konfusen, kaum zuordnenbaren Gedanken, die uns aus irgendeiner Ecke des Universums überfielen.
Aus Erfahrung oder aus eigener Weltsicht heraus lässt sich auf alle Fälle festhalten, dass Attraktivität nicht als Persönlichkeitseigenschaft per se angesehen werden kann. Wir empfinden unser Gegenüber nicht deshalb als attraktiv, weil er oder sie gerade eine passende Persönlichkeit symbolisiert. Nee, nee. Es ist viel vertrackter und gemeiner: Wir sind verschlungen mit Zeit und Raum und oft ohne Verständnis für die eigenen Empfindungen. Wir fühlen zu einer bestimmten Zeit; zu einer Zeit, in der wir gerade so sind, wie wir sind und nicht anders – wie ein Kaleidoskop, das nach dem Schütteln eine Farbenpracht offenbart, die nur einmal und nie wieder in dieser Zusammensetzung dem Betrachter das Staunen lehrt. Wer hat nicht Erinnerungen an eine Party in der Schulzeit, die am nächsten Morgen mit einem Knutschfleck am Hals die Schamesröte ins Gesicht trieb, weil der pickelige Sitznachbar im Tageslicht doch nicht mehr so cool wirkte.
Genauso verhält es sich mit der Zusammensetzung der uns umgebenen Räumlichkeiten, den darin befindlichen Menschen und ihrem ganz eigenen Verhalten, das auf uns einwirkt. Die Situation ist das zweite unwirklich erscheinende Konstrukt für unser Empfinden, das das Hirn belagert. Wir finden unser Gegenüber attraktiv, weil er oder sie gerade in dieser Situation unsere Aufmerksamkeit einfing. Nur so und nicht anders. Bleiben wir bei unserem Beispiel: Der pickelige Typ konnte einfach super tanzen und lächelte mich ständig an, obwohl ich eine Zahnspange trug und meine Stirn ebenfalls verdächtig nach einer Hormonstörung aussah. Stünden wir im erschreckenden Nichts ohne Horizont, so empfänden wir vermutlich nicht wie in diesem Moment: magisch angezogen im flirrenden Licht mit einem sehnsüchtigen, unbestimmten Verlangen.
Zu guter Letzt bleibt der wohl am stärksten ausgeprägte und wichtigste Punkt für das Wahrnehmen eines entflammten Gefühls der Attraktivität: Es ist die bestimmte Person, so und nicht anders, oder besser gesagt, so wie wir glauben, diese Person zu sehen. Wahrnehmung ist genauso persönlich und an den Menschen gebunden, wie es in der Mannigfaltigkeit überhaupt Menschen gibt. Ließ eine Zahnlücke auf einen bestimmten Charakter schließen? Ist ein immenses Wissen über die Sternenkonstellation immer ein Ausdruck von Fleiß und Klugheit oder könnte eventuell die pure Verzweiflung über einsame Nachmittage daran schuld sein, weil niemand mit dem Streber der Klasse zu tun haben möchte?
Begegnen wir nun einem besonderen Erdenbürger, dann dürfen wir natürlich in diesem einmaligen Moment nicht über solche Dinge nachdenken, sonst würden wir uns niemals irgendjemandem nähern, außer wir besitzen ein bombensicheres Vertrauen in unser Einschätzungsvermögen.
Also ran an den Menschen und genieße die besondere Konstellation von Zeit, Situation und Person! Dies Gemenge flirrt durch unser Sein und gibt uns die Möglichkeit, einen wertvollen Gedanken in ein Handeln umzusetzen.
Wie mutig bist Du?
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Anm. z. Titel: Justinus Kerner (1786-1862), Der schönste Anblick, 1. Strophe, 1. und 2. Zeile.