Am Horizont zeichneten sich die ersten weiß-gelben Sonnenstrahlen hinter der Hügelkette ab, die langsam die vereinzelten Wolken am Rand der Erdrundung rötlich färbten, als erzählten sie von dem gestrigen Kampf, der die Ebene mit tiefrotem Blut getränkt hatte. Mit dem Voranrücken der Zeit traten die unvorstellbaren Hinterlassenschaften des Todes ans Tageslicht, verstümmelte Leiber der Glücklosen, herrenlose Pferde, die grasten und aufgewühlter Boden, der diesen Wahnsinn ertragen musste. Der Kampf hatte nicht lange gewährt: vom Sonnenaufgang bis zum Verlöschen des Lichtes. Lediglich ein einsamer Kämpfer saß noch am Rand einer kleinen Felsengruppe und starrte in die Weite.
Der heutige Tag begann, so wie er immer wieder beginnen wird. Der Krieger wusste nicht, was in den nächsten Jahrhunderten geschehen würde, ob überhaupt jemals der Hass zwischen den Menschen und ihren unterschiedlichen Vorstellungen ein Ende finden würde. Heute Morgen zählte nur, dass er als einer der wenigen diesen Kampf überlebt hatte, obwohl er gestern für den Kampf seine Hoffnung auf Leben beiseitelegen musste[1], um sich nur noch der Ausübung seines Handwerkes zu widmen. Schnitte mit dem gegnerischen Schwert konnten ihm wie durch ein Wunder nichts anhaben; er würde seine Ehre und sein Leben an die folgende Generation weitergeben können. In der letzten Nacht hielt er Totenwache für seine Freunde, die dieses unvorstellbare Glück am gestrigen Tag nicht besaßen. Freunde, die mit ihm aufwuchsen, mit denen er die Härten seiner Erziehung zu ertragen gelernt hatte; Freunde, die er gestern nicht beschützen konnte; Freunde, deren Anwesenheit und Zuneigung sein Herz auf alle Ewigkeiten festschrieb und gleich eines gut gehüteten Schatzes nicht mehr loslassen würde.
So saß er hier, obwohl ihre toten Körper bereits im Hof des Kaiserpalastes auf Reismatten lagen. Er saß hier, um den Schatten ihres Todes als ihr Freund auf sich zu nehmen, um den überraschten Seelen beizustehen, die vielleicht noch nicht die Veränderungen ihres Daseins begriffen. Er war nach dem Kampf geblieben, obwohl sich die Dunkelheit auf ihn legte und seine Augen aufgrund des fehlenden Lichtes gleich einem Blinden durch die Nacht starrten. Diese Stunden veränderten ihn.
Welchen Sinn besaßen diese Kämpfe? Welcher Sinn lag darin, Freunde sterben zu lassen? Menschen, die er liebte? Seine gestrigen mutigen und hart kämpfenden Gegner führten ebenfalls ihre Freunde mit sich und ließen doch ihr Leben für etwas, was keinen Nutzen für das Weltgefüge besaß; warum sollte es dann für die einzelne Seele von Bedeutung sein?
Der Krieger mit dem dunklen, glänzenden Haar konnte nicht sagen, ob er sich oder etwas ihn veränderte; es war nun nicht mehr wichtig. Der klare Himmel mit den unzähligen Sternen zeigte ihm die Unendlichkeit, in die die Seelen seiner Freunde entflohen; zu gegebener Zeit würde er ihnen folgen, doch nicht heute; zu gegebener Zeit wäre er wieder mit ihnen vereint, doch nicht heute.
All die Kämpfe in seinem noch jungen Leben führten ihn immer wieder an den Rand seiner körperlichen Grenzen; sie trainierten sein Reaktionsvermögen, seine Muskeln, das intuitive Erfassen einer Situation und vor allem das Ruhen in sich selbst. Ohne die tiefe Ruhe in seinem Innersten bliebe nur das Reagieren auf Gefahren und nicht das Erkennen der umfassenden Zusammenhänge, die über Leben oder Tod entschieden. Er lernte, das eigene Zentrum als Zugang zu den sich um ihn befindenden Kräften zu nutzen; er konnte es bisher nie erklären, doch er lernte.
Sein Blick schweifte zum Horizont, er sah die runde Scheibe der Sonne emporsteigen, er sah ihre freundliche Helligkeit. Er sah das Wunder, das jeden Tag von Neuem begann und ihn in seiner Entscheidung begrüßte, ihn aufnahm mit einer Erkenntnis, die vorsichtig sein Herz in beide Hände nahm und mit einem Lächeln des Lebens beschenkte. Der Kämpfer des gestrigen Tages erkannte sein erhaltenes Geschenk, er sah seine schwierige und doch erfüllende Zukunft: Er würde reisen, er würde lehren, er würde all den jungen Männern seine Ruhe schenken, doch er würde dies mit der Gewissheit tun, nie wieder mit seinem Schwert das Leben eines anderen Menschen zu nehmen. Seine bloße Hand strich über das auf seinen Knien liegende Schwert. Diese Schmiedekunst würde in Zukunft die Techniken der Verteidigung lehren, würde die runden Schwingungen der Energien nachzeichnen und seine ureigenste Bedeutung für etwas anderes aufgeben, das dem jungen Krieger als der einzige Sinn für eine mögliche Zukunft erschien: Sein Schwert folgte ihm, um die Bedeutung des Lebens zu lehren, die Bedeutung der Freundschaft und Liebe untereinander, denn sie alle waren miteinander verbunden, in der Vergangenheit und in der Zukunft. Dies würde sich niemals ändern.
So war in dieser Nacht ein Samenkorn des Friedens entstanden, das sich über viele Jahrhunderte hinweg zu einem stattlichen Baum entwickeln sollte und sich in den weltweit ausgebreiteten Budokünsten wiederfindet, die auf einen Wettkampf verzichten und das gegenseitige Lehren unter Freunden als ihre Aufgabe verstehen.
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[1] Sun Tsu, Die Kunst des Krieges, 13. Auflage, Nikol-Verlag, Hamburg, 2014, 128.
Hinweis zum Titelbild: „Die schönste unter allen Blüten ist die Kirsche. Der edelste unter den Menschen ist der Samurai.“
(Japanisches Sprichwort)