Der Glückskeks

Konnte man verkleideten Orakelsprüchen vertrauen? Niemand konnte sagen, ob diese kleinen eingebackenen Zettelchen vom Chinesen wirklich ihre Wirksamkeit entwickelten. Brachte es Unglück, wenn ich nicht an ein magisches Heranziehen der Zukunft durch den mehr oder weniger gezielten Griff zu diesem eingepackten Wundergebäck glaubte? Ignorierte ich eine positive Beeinflussung meines weiteren Weges oder verwandelte ich sie gar in das Gegenteil, weil ich dieses nicht einschätzbare Vorgehen als null und nichtig ansah? Wer weiß das schon. Gestern Abend im Lokal mit Freunden aß ich sogar die keksige Umhüllung, da meine Sitznachbarin steif und fest behauptete, dass mein Spruch sonst keine Chance besäße. Ich würde es doch bei etwas Schönem auch wollen, oder? Fragen über Fragen, die sich eigentlich an einem solch wunderschönen Tag überhaupt nicht stellen sollten. Doch Gedanken neigen manchmal dazu sich zu verselbstständigen.

Die morgendliche Kühle fixierte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung: Endlich! Das ehrwürdige Kunstmuseum öffnete seine Pforten mit einem leisen Schaben über den Sand. Beeindruckende Tore mit alt wirkendenden, schmiedeeisernen Verzierungen schoben sich zur Seite; ein neuer Anstrich hob die Verschnörkelungen besonders hervor. Beim Durchschreiten des Tores strich ich über die glatte Oberfläche und freute mich auf die kommenden Stunden. Den ganzen langen Vormittag würde ich mir die Zeit nehmen, zwischen all den neu eingetroffenen Kunstwerken dieses einmaligen Künstlers umherzuschlendern. Gab es überhaupt einen schöneren Zeitvertreib, egal an welchem Tag im Jahr? Nur heute war überhaupt nichts egal, denn heute feierte ich in den kommenden Stunden ganz allein für mich meinen Geburtstag. Das Telefon war stumm gestellt und würde schweigend die Empörung meiner Familie und meiner Freunde sammeln, die mich zum hundertsten Mal nicht erreichen konnten. Etwas belustigt bemerkte ich, wie mir der Gedanke daran mein Vergnügen noch ein klein wenig steigern konnte.

Einen tiefen Atemzug später verschluckte mich eine abgeschottete Welt, der ich schon seit ich denken konnte, mit ihren außergewöhnlichen Formen und Farben verfallen war. Die bisher am Tor angesammelten Besucher, die geduldig auf die Öffnung gewartet hatten, verstreuten sich ziemlich schnell im riesigen Gebäude. Das Genießen konnte seinen Lauf nehmen!

Der erste Raum – allein der Geruch! Unbedarfte Besucher würden ihn vielleicht mit trockenem Staub und einer Ausdünstung des glatten Holzbodens definieren, doch mir schlug Ambrosia, der Duft nach Palmen, das Salz des Meeres, das Pulver eines Schlachtfeldes oder das Parfum der eleganten Frauen aus dem 18. Jahrhundert entgegen. Keine Frage, wer hier Recht besaß!

Große, wandfüllende Gemälde ließen die Decken des Raumes noch höher erscheinen; vor jedem stand eine hölzerne Bank, um den Betrachter ein klein wenig zu verwöhnen. Doch die Mitte des Raumes nahmen fünf mannshohe Figuren in Anspruch. Und was für Figuren! Gegossene Bronze in einem Ton wie glühendes Gold, die je nach Lichteinfall eher gelbliche oder rötliche Färbung annahm. Mein Blick öffnete sich für das vor mir Stehende. Was für ein Bild von Mann! Könnten sich die Exemplare aus Fleisch und Blut jemals dem annähern? Innere Ruhe findend versank ich im Moment. Augen betrachteten mich. Bewegte ich meinen Stand ein wenig nach links, so schaute er mich an, verlagerte ich meine Achse ein wenig nach rechts, so schaute er mich an, stellte ich mich auf die Zehenspitzen, so blieb sein Blick in meinem Bewusstsein. Mein Zwerchfell zog sich zusammen und ich dachte an Verbotenes. Verstohlen blickte ich um mich herum, niemand befand sich im großen Saal. Lediglich rechts im Durchgang stand eine Aufsicht mit abgewandtem Gesicht. Der junge Mann rührte sich aber nicht, wahrscheinlich war er noch viel zu müde um diese Uhrzeit.

Also wandte ich mich wieder dem unvergleichlich ausdrucksstarken Gesicht zu, das mir anscheinend bis auf die Seele schauen konnte. Veränderte sich sein Gesichtsausdruck? Sein Blick ergriff mich und band meine ganze Aufmerksamkeit. Mit dem Wissen, dass er nicht wirklich mich meinen konnte, sah ich ihn als angespannten und höchst aufmerksamen Kämpfer auf dem Schlachtfeld mit einer allumfassenden Übersicht, die ihn notwendigerweise vor dem überraschenden Tod durch den Gegner beschützte.

„Du bist einer…“, flüsterte ich nur für ihn, für seine glänzenden Ohren bestimmt. In Gedanken gab ich ihm zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort selbstgepflückte Feldblumen, die ihm in seiner Satteltasche Glück und Segen für den anstehenden blutigen Kampf geben sollten. Vielleicht auch als ein gutes Omen, das ein schützendes Dach um den Mann meines Herzens legen sollte. Dieser Mann mit dem intensiven goldenen Blick besaß keinen Namen, doch den brauchte er auch nicht; dieser Mann besaß keine Heimat, doch diese brauchte er auch nicht, denn seine Heimat lag in ihm selbst. Er stand über Zeit und Raum. Als Werk eines Künstlers sollte er keine Seele besitzen, doch erhielt nicht jedes Kunstwerk durch seinen Betrachter erst das Leben eingehaucht, das es für ein weiteres Sein benötigte? Mit vollem Herzen wollte ich diesem Mann mit dem durchdringenden Blick all meine Aufmerksamkeit schenken, all mein Herz, nur um ihn ein Teil des Lebens werden zu lassen, nur um ihn für einen kleinen Moment das menschliche Empfinden erfahren zu lassen, das er mit Sicherheit durch seinen Mut und seine Unerschrockenheit verdiente. Vorsichtig zog ich mit meinem Zeigefinger seine geraden Augenbrauen nach, die mir nicht verraten konnten, ob er auf dem Schlachtfeld wie ein dunkelhaariger, gestenreicher Spanier kämpfte oder ob er als blonder Mann die Unerschrockenheit der Wikinger mit sich trug. Ich konnte es nicht sagen, doch war es wichtig? Er stand mir gegenüber und schaute als zeitloses Wesen auf mich herunter. Auf mich, die ihn bewunderte, auf mich, die ihm ohne mit der Wimper zu zucken, bis ans Ende der Welt folgen würde. Nimm mich an die Hand, ich gehe mit dir, du Unbekannter! Die einen nennen es Kunst und für die anderen ist es die Dritte Dimension, die uns Menschen in die Sterne trägt, um uns selbst irgendwann wieder zu finden. Denn wie schnell verlieren wir uns selbst und kennen nicht mehr den Weg, der eigentlich unter unseren Füßen seine Richtung weist.

So erhob ich nochmals meine Hand, um seine Wange in meine hohle Hand bergen zu können. Für den, der Trost und Zuflucht eines Anderen niemals suchen würde, sondern nur geschenkt bekommen konnte, von dem, der ihn liebte.

„Ich bin bei Dir“, flüsterte ich dem Kämpfer zu, der sein Dasein so allein bestreiten musste. Vorsichtig zeichneten meine Finger seine Lippen nach, die sich überhaupt nicht mehr kühl anfühlten, sondern eher warm und anschmiegsam gleich einem Mann aus meiner Zeit. War ich noch im Hier und Jetzt? War es überhaupt wichtig? War es überhaupt wichtig, ob ich zwischen den Sternen wanderte und den Blick einer Liebenden trug? Denn nichts anderes war es, das mich auf alle Ewigkeiten bannte. Die Handinnenfläche meiner rechten Hand legte sich auf seine muskulöse Schulter. Bliebe ich die ganze Nacht, so stünde ich hier ohne Zweifel, ohne Erschöpfung, denn sein Blick in meine Seele würde mich tragen.

Eine Hand legte sich mit leichtem Druck auf meine Schulter, um mich in die Gegenwart zurück zu holen. Irritiert entzog ich mich dem zeitlosen Universum und wurde ohne Rücksicht auf mein Empfinden in die Gegenwart katapultiert. Langsam nahm ich meine Umgebung wieder wahr. Der Raum war mittlerweile mit Menschen gefüllt, die anscheinend von mir überhaupt keine Notiz nahmen. Nur die Hand der Person in meinem Rücken schien nachdrucksvoll meine Aufmerksamkeit erzwingen zu wollen. Das fordernde Berühren ließ mich herum drehen. Der junge Wachmann stand hinter mir. Seine Augen fixierten mein Gesicht mit unbeweglicher Miene, als hätte ich mich einer Straftat hingegeben und wartete jetzt auf meine Verurteilung.

„Sie wissen, dass ich Sie jetzt mitnehmen muss?“ Sprachlos und benommen starrte ich in seine Augen, die mir so bekannt erschienen. Eindringlich fixierte er mein Gesicht und ließ meine Schulter immer noch nicht los. Anscheinend wartete er auf eine Antwort.

„Ich hab wirklich nichts getan!“, versuchte ich mich zu rechtfertigen. Meine Gedanken suchten nach sinnvollen Worten, die diese fordernde Person zufriedenstellen könnten. Mein Blick fiel auf sein lockiges braunes Haar, das sich verspielt hinter seinen Ohren kringelte, um schließlich an dem mir von eben bekannten Blick hängen zu bleiben. Wieso bekannt? Nun etwas wacher seiend, betrachtete ich seine Augenbrauen, die ich vor wenigen Minuten noch berührt zu haben schien. Mein Blick glitt weiter zu seinen Wangen, um schließlich mit offenem Mund an diesem Mann hängen zu bleiben.

Einen Moment schwiegen wir. Einen Moment suchten unsere Augen den Blick des anderen. Ein Moment blieb Raum und Zeit mitten im Universum stehen.

„Glaubst du, ich lasse dich jemals wieder los?“

 

Hinter uns schloss sich die Tür der Kunsthalle, die sich heute Morgen mit einem Versprechen geöffnet hatte. Ja, ich glaubte an Glückskekse!