Gänsehaut

Der schwingende Boden der alten Turnhalle strahlte noch die Kühle der Nacht aus. Der Geruch von Kalk vermischte sich mit den typischen Ausdünstungen von Holz und Leder, der an der rechten Seite hinter einer großen Schwingtür stehenden Gerätschaften. Das fahle Licht der morgendlichen Sonne fiel bereits schräg durch die großen, nicht mehr ganz sauberen Fenster auf das hintere Drittel der Halle. Ganz still stand hier die Trainerin vor dem aufgebauten Schwebebalken, der sich von allen anderen Geräten dadurch abhob, dass sein Holz noch gleichmäßig leuchtete und noch keine dunklen Abnutzungsstellen aufwies. Langsam fuhr ihre Hand über die Absprungkante, ihre Augen schlossen sich, da sich ihrer unweigerlich Bilder der Vergangenheit bemächtigten:

In einer Halle wie dieser, überfüllt mit unzähligen Menschen, verfolgten die Zuschauer die geschmeidigen Bewegungen der sehr durchtrainierten jungen Frau. Jeder gesetzte Schritt sollte in einer vorgegebenen Kombination einem weiteren vorausgehen. Schwungvoll gelöste Energien widerstanden der Anziehungskraft des Bodens. Die schmalen Füße verfehlten nie ihr Ziel.

Zählte für die Turnerin überhaupt ein Oben und Unten? Ertappten die Betrachter sie bei einer Unsicherheit? Mit tiefen Atemzügen folgen sie ihrem Körper, der jede Bewegung minutiös bis zum Ende des Balkens ausführte. Eine Abfolge der dargestellten Elemente mochte noch so umfangreich sein; das letzte Bild, der Absprung vom Balken in eine sichere Standhaltung entschied über Himmel oder Hölle. Ein Anhalten der Atmung markierte das kurze Zögern, bevor die rotierenden Arme den Rest des Körpers in einer Dreiviertel-Schleife dem Boden näher brachten. Das parallele Auftreffen beider Füße versprach schon einen guten Anfang, wenn der Körper gerade in der Achse folgte und die Knie den immensen Schwung abfedern konnten. Der Stand bekam mit der inneren Zufriedenheit seinen letzten Schliff; die starke Anspannung existierte nicht mehr, nur noch betäubende Glückseligkeit, wenn der Sprung gelang. Doch dieser Tag, geprägt von unglaublichen Anspannungen, umhüllte die Turnerin mit einem Kokon der Verletzlichkeit, so dass die Angst ohne Gegenwehr ihren Platz fand. Der Sprung misslang und das Schweigen der Zuschauer für einen unendlich langen Moment verletzte. Enttäuschung wallte auf und gesellte sich zu der bisher gut versteckten Furcht vor dem Versagen, die gleich einem unbemerkt eingedrungenen Dieb auf den richtigen Zeitpunkt zum Zuschlagen gewartet hatte.

Die Einen ignorieren diesen Fremden mit aller Macht in der Hoffnung, ein unhöfliches Nichtsehen würde den Anwesenden zum Gehen auffordern. Doch es ist keine eigenständige Lebensform, die sich in den inneren Räumen ausbreiten kann, es ist ein Parasit mit der Aufgabe der Zerstörung. Andere betrachten dieses Etwas mit Argwohn, geben ihm ab und zu eine Tasse Kaffee mit einem Stück Kuchen als Bestechungsmaßnahme – immer frei nach dem Motto: Sei freundlich, ich bin es doch auch zu dir. Es ist aber ein Auskommen ohne Zukunft, denn der Preis wird irgendwann ein ganz anderer sein. Wieder Andere erkennen die Angst als einen Eindringling und lassen sie nicht mehr aus den Augen. Die erste Betrachtung sortiert die Art: Ist es ein Löwe, eine Schlange oder gar ein Drache mit den unermesslichsten Auswüchsen? Ist die Angst allein bekämpfbar oder müssen mir andere beistehen?

Es weiß sich derjenige glücklich zu schätzen, der genau diese Hilfe durch eine andere Seele erfahren darf, die mit einem Blick die Notwendigkeit einer helfenden Hand erkennt; ein besonderer Mensch mit der Gabe, die Situationen schnell zu erfassen, um schließlich mit bestimmter Vorgehensweise dem Verzweifelten mögliche Wege aufzuweisen. Das Besondere liegt dann darin, dem Fürchtenden den Weg zur Selbsthilfe zu zeigen, die daraufhin diesen Parasiten aus eigener Kraft verscheuchen kann.

Ihr Trainer sprang damals ohne einen Gedanken an die bestehende Wettkampfsituation zu verschwenden auf, nahm ihre leicht zitternde Hand und deutete ihr mit einem Nicken an, dass sie wieder auf den Balken springen sollte. Irritiert schaute sie ihn an, folgte aber seiner stummen Anweisung. So stand sie dort, schloss für zwei Sekunden die Augen, konzentrierte sich auf die Kante, auf den Schwung, auf die im Innern aufgebauten Energien, die ihr gleich die richtige Abmessung und den Stand schenken sollten. Die Zuschauer applaudierten mit Nachdruck; die Begeisterung galt dem zur Seite tretenden Trainer und dann der Turnerin, die sich nun nicht mehr beirren ließ. Stille trat ein. Die Muskeln spannten sich, das Abspringen hinterließ ein leises kaum verwechselbares Geräusch des Luftstroms, gefolgt von dem satten Aufkommen auf der Matte. Hierfür gab es keine Wertung, hierfür gab es tosenden Applaus und das überwältigende Gefühl, den eingenisteten inneren Fremden mit einem Schlag an die Kehle niedergestreckt zu haben.

Einen Lidschlag später und wieder im Hier und Jetzt tauchte das Deckenlicht der Halle den immer noch neu wirkenden Balken in gleißende Farben. Ohne es bemerkt zu haben, standen bereits ihre drei Zöglinge mit ihren grazilen Körpern und hochgebunden Haaren aufgereiht vor ihr. Kalkstaub hing in der Luft und Spuren davon fanden sich auf den schmalen Händen. Die Jüngste legte ihre linke Hand auf den Balken und mit der rechten malte sie lächelnd und ohne Hast mit dem weißen Finger ein kleines Herz auf die Jacke ihrer Trainerin, die verblüfft dastand und es geschehen ließ. Die Stille der Halle nahm den gespannten Blick der jungen Turnerinnen auf, der sich schließlich in ein lautes Lachen löste, als ihre oftmals so strenge Lehrerin kurz entschlossen den Kalktopf ergriff und jedem der Mädchen ebenfalls ihre Zuneigung mit einem Symbol offenbarte.