Katzensilber

Der Wind kommt mit morgendlicher Kühle über das Meer und trägt das Wasser mit leichten Wellenbewegungen an den Strand. Der helle Sand verfärbt sich für einen Moment in nachtfarbene Dunkelheit, einen Augenblick später verliert sich der Rand des Meeres in den Untiefen des Bodens. Das Wechselspiel schimmert immer wieder in neuen Nuancen, die durch die morgendliche Sonne mit dem Verstreichen der Zeit deutlicher hervortreten: Helles Blau des Himmels, dunkles Blau des Wasser, Anthrazit der Steine und Ocker des Sandes.

Inmitten der noch leeren Bucht sitzt ein Betrachter am Rand eines meterlangen Holzsteges und nimmt mit wachen Augen den Morgen auf. Schuhe und Strümpfe liegen ungenutzt an der Seite, während seine Füße die kleinen rhythmischen Wellen spüren. Keine Armeslänge entfernt erfasst sein Blick ein kleines Holzstück, das vom Meerwasser immer wieder an den Strand getragen wird, einen Moment verharrt und dann doch wieder im Wasser verschwindet.

Langsam wärmt die Sonne die weiche, nach Salz schmeckende Luft. Um sich noch mehr dem Gefühl des Daseins hingeben zu können, hebt der nachdenkliche Mann seine leicht geschlossenen Augen der Sonne entgegen, die nicht nur seine Haut, sondern sein Innerstes berührt. Gefüllt mit Energie gleitet sein Blick zum Horizont, bis dieser schließlich von einem Glitzern in der Nähe seines Sitzplatzes eingefangen wird. Irritiert bemerkt der sich Sonnende, dass er nicht mehr allein den Ort genießt. Er hatte sie nicht kommen hören. Ganz ruhig ohne Bewegung starrte sie aufs Meer; der Wind verwehte ihr offenes, langes, dunkles Haar in alle Richtungen, als wären es die Wellen im Wasser, weshalb er ihr Gesicht nicht gut erkennen konnte. Sie trug eines dieser vielfarbigen Strandkleider, die nur aus einem Tuch bestehen, deren lange Enden vom Rücken unter den Armen nach vorn zur Brust verlaufen, um schließlich gekreuzt hinter dem Nacken den Halt zu finden. Eine bequeme Möglichkeit, sich am Strand schnell jeglicher Kleidung zu entledigen. Hauchdünn betonte das Tuch die Konturen ihres Körpers. Ihr steter Blick richtete sich konstant auf den weit entfernten Horizont. Sie schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen. Doch genau dies empfand der morgendliche Strandbesucher als gut und richtig; jedem von ihnen blieb damit das ungestörte Erlebnis. Die immer wieder umkehrende Brise bewegte die Wellen und loses Material. Wehte der Wind vom Land, dann zeigte sich ein gerader Rücken mit einer passenden Verlängerung und langen, schmalen Beinen, die wie angeschraubt im Sand standen. Wehte er vom Meer, verfingen sich die Tuchseiten von vorn zwischen den Beinen. Allein diese sich immer wiederholende Bewegung des Kleides hätte er sich stundenlang anschauen können. Es wirkte fast meditativ. Er sah die geraden nackten Schultern. Ihre linke Hand lag am unteren Bauch, als besinne sie sich auf ihr Zentrum, das ihr diese Standfestigkeit im Wind verlieh. Ihre rechte Hand hielt etwas, als böte sie es der Sonne dar, die sie mit einem Glitzern und Funkeln beschenkte; vielleicht handelte es sich um geschliffenes Glas, so vermutete der Betrachter, oder einen Glimmerstein. Dem Mann fiel überhaupt nicht auf, dass er unverwandt die Frau anstarrte.

Noch immer betrachtete sie die Sonne und das Objekt in ihrer Hand; nichts anderes schien mehr zu existieren. Ohne zu wissen warum, beschleunigte sich die Atmung des Betrachters: Die Ruhe der Frau, ihr Losgelöstsein von Zeit und Raum, ließ sie förmlich inmitten des Universums schweben, bis sie langsam mit weichen Bewegungen ihre linke Hand hob und mit einem Zug ihre Schleife im Nacken löste, so dass das Tuch gerade mit dem auflandigen Wind zurück in den trockenen Sand flatterte. Die Sonne schien für diesen Moment noch mehr an Kraft zu gewinnen, um die ihr dargebotene Haut wärmen zu können. Sprachlos und mittlerweile mit einer sehr flachen Atmung betrachtete der Mann die nun fast nackte Frau, die immer noch den glitzernden Gegenstand in der Hand hielt. Ihre helle Haut zeigte sich im Kontrast zu dem fast nur aus Bändern bestehenden blauen Bikini-Unterteil, das ihre Oberschenkel und Po umso mehr betonte. Die gerade Haltung der im Wind Stehenden blieb, doch langsam hob sie seitlich ihren rechten Fuß, um ihn schließlich an der Innenseite ihres linken Beines zu platzieren. Vorsichtig legte sie das glitzernde Etwas auf den hochgezogenen Oberschenkel und reckte die Hände zueinander gewandt gen Himmel. Gleich einer Statue stand sie nun gänzlich ruhig auf einem Bein mit geschlossenen Augen in der Sonne. Nur das Heben und Senken ihres Brustkorbes verriet dem faszinierten Beobachter, dass hier wirklich eine lebendige Frau stand, die seine Existenz gänzlich ignorierte. Ihre Nacktheit passte zum Meer und dem Moment des frühen Morgens. Er sah ihre gespannten Muskeln, er sah ihr Wohlgefühl in der Sonne und er sah ihre Lust am Dasein. Er sah Leben im Stillstand der Zeit.

Stimmen brachen das Bild und das Gefühl. Den Fokus von dem ihm Dargebotenen entfernend, blickte der Betrachter auf. Niemand war zu sehen. Sie schien es ebenso gehört zu haben, denn sie nahm den Stein wieder in die Hand, löste sich aus der Haltung, griff mit der freien Hand das auf dem Boden liegende Tuch und schwang es sich wieder um den Körper. Ohne den Blick von den tanzenden Wellen zu nehmen, ging sie durch das Wasser auf ihn zu!

Sich der Situation bewusst werdend, beschleunigte sich der Herzschlag des Betrachters. Er blieb einfach in der sitzenden Haltung am Steg. Was hätte er sonst tun können? Sie trat direkt vor ihn, berührte mit ihrer Hüfte seine Knie und blickte mit einem Lächeln in seine Augen. Sie ergriff mit der linken Hand seine rechte, öffnete sie und legte den noch warmen Stein in seine offene Hand. Überrascht schaute er in das Glitzern des Glimmersteins. Er sah ihre grünen Augen, er sah ihre nackte Brust durch das dünne Tuch und hörte ihr Flüstern, dass es ein Geschenk für ihn sei, das ihn an einen schönen, vollkommenen Morgen erinnern solle. Sie drehte sich um und ging. Er fand keine Worte und schaute ihrem flatternden Tuch hinterher, bis die Dünen sie verschluckten. Sprachlos betrachtete er seine rechte Hand, die immer noch den Stein hielt. Sein Herz raste! Eine wildfremde Frau zog sich vor seinen Augen aus, zeigte ihren Körper und beschenkte ihn mit etwas Wertvollem! Er würde nie wieder an diesen Strand zurückkehren können, ohne sich an diese Begebenheit zu erinnern; was er nicht wirklich als schlimm empfand.

Versonnen starrte er auf den Stein, der vor wenigen Momenten noch auf dem Oberschenkel dieser wunderschönen Frau gelegen hatte. Ein kleiner Schatten schimmerte durch das durchsichtige Material. Neugierig drehte er es um. Ein kleiner Zettel klebte auf der Rückseite:

„Bibis aufregende Bademoden, gleich um die Ecke, besuchen Sie uns!“

Ein lautes Lachen hallte durch die Bucht.